Baumgrüne Gedanken
Aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers schaute Johanna direkt in die Krone der alten Buche. Zu jeder Jahreszeit war dort etwas los, so dass Johanna die Geschichten rund um die Buche einfach nur aufschreiben musste.
Heute unterhielten sich zwei Rotkehlchen miteinander. Johanna spitzte die Ohren und versuchte, etwas zu verstehen von ihrer Unterhaltung.
„Es ist ruhig geworden hier überall. Was ist mit den Kollegen und wo stecken sie alle?“, fragte das eine Rotkehlchen.
„Sie sind zur großen Reise aufgebrochen. Zumindest viele von ihnen“, antwortete das andere.
„Zur großen Reise? Ja, ist es schon wieder so weit?“
Eine winzige Blaumeise mischt sich ein. „Meine Eltern haben gesagt, dass die Stare sich seit Tagen versammeln, um in den Süden zu fliegen und die Störche sind auch schon weg. Gott sei Dank, vor denen habe ich nämlich Angst!“
„Meine Freunde, die Finkenkinder, kann ich auch nirgends entdecken“, piepte die kleine Blaumeise. „Sind sie auch Reisende?“
„Viele von uns sind Reisende“, erzählte die Starenmama. „Wir wären auch schon längst weg, wenn wir nicht unseren Jüngsten vermissten. Der Bengel treibt sich wieder irgendwo herum und verpasst die wichtigen Dinge im Leben.“ Sie seufzte.
Johanna wagte es nicht, sich zu bewegen. So gern hörte sie den Vögeln zu und ihre Sorgen unterschieden sich fast gar nicht von denen der Menschen. Beinahe hätte sie kichern müssen, denn ihr Ältester war auch immer auf Achse gewesen. Wie oft hatte sie ihn suchen müssen. Einmal sogar hatte große Aufregung geherrscht: Fabian, damals fünf Jahre alt, war schon über vier Stunden verschwunden und sie hatten ihn überall, wirklich überall gesucht, die ganze Familie, die Freunde, die Nachbarn. Nichts. Fabian war weg. Sie hatte geglaubt, verrückt zu werden. Um sich zu beruhigen, hatte sie sich ans Fenster gestellt. Das tat sie immer, wenn sie Ruhe suchte oder aufgeregt war. Der Blick ins Baumgrün konnte Wunder wirken. Doch was sah sie damals im Baumgrün sitzen und feixen?
Fabian! Er strahlte sie an mit diesem Blick aus warmen Augen, dem Johanna nie widerstehen konnte, und sagte: „Das war toll heute! Alle haben mich gerufen! Du, Mama, ich glaube, sie haben mich alle lieb. Und jetzt habe ich Hunger.“
Und wie ein Äffchen war er den Baum hinabgeklettert. Wer konnte ihm da böse sein?
Während Johanna ihren Gedanken nachging, hatte sich die Vogelversammlung aufgelöst. Sicher waren sie nun alle miteinander auf die Suche nach dem Starenjungen gegangen. Ob er auch in der Buche hockte, irgendwo versteckt?
Johanna zog ihr Schultertuch enger um ihre Schultern, sie fröstelte. Ein Tee würde ihr guttun.
„Mutter, kommst du zum Essen?“ Das war Fabian. Johanna lächelte. ‚Er kann Gedanken lesen‘, dachte sie und verließ ihr Zimmer, um mit der Familie zu Abend zu essen.
© Regina Meier zu Verl