Der Geschichtenerzähler

Der Geschichtenerzähler

Als Kind konnte ich fliegen. Das glaubte mir niemand und doch war es so. Ich schloss einfach die Augen, atmete ganz ruhig und es dauerte gar nicht lange, da hob ich ab. Zuerst sah ich mich selbst auf meinem Spielteppich sitzen. Dann flog ich höher und höher und konnte schließlich unser Haus von oben betrachten. Spannend war das und ich fand, von oben betrachtet sahen die Häuser besonders interessant aus, vor allem, wenn man sich dabei ausmalte, wie es auf den Dachböden direkt unter den Dächern aussehe und was sich dort alles im Dunkel der Jahre tummeln mochte. Ich malte mir aus, dass es dort Geheimnisse gab, die nur ich entdecken konnte. Dazu fielen mir immer wieder Geschichten ein, die ich meinen jüngeren Geschwistern erzählte.
Oft erinnere ich mich daran, besonders jetzt, wo ich mehr Zeit habe, denn seit dem Frühjahr bin ich nun Rentner und muss nicht mehr jeden Tag zur Arbeit gehen. Und ehrlich, nach 3 Wochen nun fange ich schon an, mich zu langweilen. Dieses Rentnerdasein habe ich mir aufregender vorgestellt. Eigentlich ist alles beim Alten, nur dass ich eben viel Zeit zu Hause verbringe. Auch die Geschichten in meinem Kopf haben sich nicht geändert, im Gegenteil. Und es werden immer mehr, scheint mir. Was soll ich mit ihnen anfangen? Soll ich zusehen, wie sie sich in meinem Kopf immer mehr zusammendrängen, weil der Platz fehlt, und sie irgendwann ersticken?
Upps! Ich hole tief Luft. Da hätte ich doch beinahe das Atmen vergessen. Und das ist nun etwas, was ich auf gar keinen Fall sollte – das Atmen vergessen, denn das würde mir nicht bekommen und ich möchte doch noch etwas vom Leben haben und es genießen. Allerdings ist das manchmal gar nicht so einfach. Man muss ja nur die Nachrichten einschalten.
„Die Nachrichten!“ Ich atme schwer.
„Wie soll man da zur Ruhe kommen? Dieses Gefühl, wehrlos zu sein, ist ja nicht mehr zu ertragen. Nein, nein, da sind mir die Geschichten und Abenteuer in meinem Kopf lieber. Sie tun der Seele gut. Ich muss sie nur in Ordnung halten da oben. Ich klatsche mir an den Kopf und muss grinsen.
Und während ich an meine Stirn klopfe, habe ich einen ganz anderen Gedanken wachgerüttelt. Entschlossen springe ich auf und suche nach der Zeitung vom Wochenende. Hatte da nicht etwas dringestanden, dass man Erzähler für verschiedene Anlässe in der Bibliothek suche? Ich war ganz sicher und fand dann den Artikel in der Heimatzeitung.
„Wir suchen Geschichten von früher aus den Zeiten der Großeltern – Beiträge und Geschichten aus der Kindheit, dem Alltag, den Erlebnissen, Gedanken, Gefühlen und Träumen der damaligen Jugend“, steht da in dicken Buchstaben. Und kleiner gedruckt: „Scheuen Sie sich nicht. Erinnerungen sind so wertvoll, auch und gerade für unsere Zukunft.“
Das ist es doch, genau das, was ich gesucht habe. Ich werde mich dort bewerben, Geschichten habe ich ja genügend und dann werde ich gegen das Vergessen an erzählen, jedem, der es hören möchte. Das Schöne ist, dass die Menschen dort freiwillig erscheinen werden und zuhören möchten. Es sei denn, es kommt keiner – aber darüber kann ich mir dann Gedanken machen, wenn es so weit ist, oder? Jetzt habe ich viel zu tun. Unvorbereitet möchte ich nicht dort erscheinen, vielleicht wollen sie auch gleich eine Probeerzählung von mir hören. Was würde ich zum Einstieg von früher erzählen wollen? Da gibt es so vieles. Ich nehme Stift und Papier und notiere mir erste Ideen und ich sitze in meinem Sessel und schreibe und schreibe und schreibe …

© Regina Meier zu Verl

Schreibübungen – ein Auszug aus einem Projekt

Ich schreibe nach einem täglichen Impuls und hoffe, dass ich das durchhalte. Bis jetzt klappt es gut und es fällt mir immer etwas ein. Diese Übungen inspirieren zu neuen Gedanken/Texten, wie auch der folgende, den ich als Beispiel hier einmal zeigen möchte.

Heute soll es um Rührung gehen. Ein Wort, das mir oft als Gefühl widerfährt, aber in meinem aktiven Sprachschatz weniger vorkommt,
Wie kann das sein? Ich habe da so eine Vermutung. Mich rühren die verschiedensten Dinge. Ich fang mal mit einem banalen Beispiel an. Es läuft ein schöner Film, den ich interessiert anschaue. Es passieren Dinge, die mich so rühren, egal ob positiv oder negativ, dass bei mir die Tränen kullern. Wenn ich allein bin, ist das egal, in Gesellschaft aber schäme ich mich dafür. Nonsens, ich weiß, aber es ist eben so. Nächstes Beispiel: ich lese ein Gedicht vor, oder ein Gebet, es können auch Fürbitten sein – mir ist dann so feierlich zumute, es rührt mich und man kann ahnen, was passiert – ich weine, kann die Tränen nicht unterdrücken, die Stimme wird immer dünner. Das ist nicht schön, aber ich kann daran nichts ändern – so bin ich eben.
Glücklicherweise passiert mir das bei meinen Lesungen eher selten. Ich habe ja aber auch die Macht der Textauswahl und wähle hauptsächlich humorvolle Texte, oder wenn nicht, dann kenne ich diese Geschichten so gut, schließlich habe ich sie ja selbst geschrieben, dass ich weniger in die Verlegenheit komme, dann mit den Tränen zu kämpfen. Das ist gut so und wenn doch einmal etwas Rührung vorkommt, dann lasse ich es geschehen und merke oft, dass auch meine Zuhörer sich verstohlen ein Tränchen aus dem Auge wischen.
Man könnte nun denken, dass ich ein wenig durchgeknallt bin, wenn ich hier erzähle, dass ich auch gerührt bin, wenn eine Nationalhymne erklingt. Das ist so feierlich und fasst mich wirklich an, zum Beispiel vor einem Fußballspiel. Es muss nicht einmal die Deutsche Hymne sein, auch andere Länder haben wunderbare Nationalhymnen, so bin ich mit Herz und Seele dabei, wenn eine erklingt. Ist wirklich so und es ist ja auch gar nicht schlimm, oder?

Das Medaillon

Eine etwas längere Geschichte, die ich vor vielen Jahren für einen Freund kurz vor dessen Tod geschrieben habe. Er hatte so eine große Freude daran und ich bin froh, dass ich ihm diese Freude gemacht habe. Es gibt viele Parallelen zu seinem Leben, ist vielleicht aber auch interessant, wenn man ihn nicht gekannt hat.

Das Medaillon

René von Sudermann war froh über das Engagement, das ihm sein alter Klavierlehrer vermittelt hatte. Während er noch zur Musikhochschule ging, hatte er von anderen Auftritten geträumt, von Glanz, Ruhm und von Gagen, die ein sorgenfreies Leben ermöglichten.
Hier in der Hotelhalle des Stadthotels zu spielen war besser als gar nichts zu tun. Trotzdem reichte am Ende eines Monats das Einkommen vorn und hinten nicht. Nie war genug Geld da, die festen Kosten zu bezahlen und so war René seinem Vermieter mittlerweile die dritte Miete schuldig geblieben.
Sorgen machen schlaflos und Schlaflosigkeit wirkt sich auf die Konzentrationsfähigkeit aus. Wie sollte er gut spielen können, wenn seine Gedanken stets um andere Dinge kreisten?

Seit zwei Wochen saß er jetzt Abend für Abend hier. Er genoss es, auf einem wunderbaren Instrument spielen zu können und betrachtete es nicht als Arbeit sondern als willkommene Übungseinheit.
Manchmal gesellten sich ein paar Hotelgäste zu ihm, luden ihn auf ein Glas Wein ein und spendeten artig Beifall. An anderen Tagen erntete er nur ein Lächeln oder kurzes Kopfnicken von eiligen Menschen, die von Termin zu Termin hasteten.
Heute saß eine ältere Dame im blauen Biedermeiersessel nah beim Flügel. Sie hörte mit geschlossenen Augen zu. In den kurzen Pausen nippte sie an ihrem Tee und versank anschließend wieder in der Musik.
René spielte mit großer Freude, als er die Zuhörerin wahrgenommen hatte und es dauerte gar nicht lange, da vergaß er die Welt um sich herum. Es gab nur noch diesen herrlichen Flügel und ihn, kein Zittern, keine Aufregung, keine Sorgen.
‚Und wenn da draußen nur ein einziger Mensch ist, den du mit deiner Musik berührst, dann hat sich die Arbeit gelohnt’, hörte er die Stimme seines Lehrers, als die letzten Takte einer Mozartsonate verklungen waren.
René schaute kurz auf seine Hände, atmete tief ein und suchte dann den Blick der Weißhaarigen. Sie lächelte und nickte ihm anerkennend zu. René hatte Zeit und Raum vergessen. Als er jetzt auf die Uhr blickte, erschrak er. Es war bereits kurz nach Zehn, der letzte Bus war längst weg und er würde den Heimweg zu Fuß antreten müssen. Doch es machte ihm heute nichts aus, schon lange hatte er nicht mehr so intensiv musiziert wie an diesem Abend.
Die Dame hatte sich erhoben, nahm ihren Mantel und ging zum Ausgang. Sie winkte René zu und verschwand in der Drehtür. René sah ihr nachdenklich hinterher. Dann schloss er den Flügel, holte seine Jacke aus der Garderobe und verabschiedete sich beim Portier.
„Gute Nacht Herr Fischer, bis morgen!“
„Gute Nacht, schlafen Sie gut.“ Fischer reichte ihm einen Umschlag und widmete sich dann wieder seinem Computer, so, als habe er noch wichtige Dinge zu erledigen.

Vor dem Hotel überlegte René, ob er einen Teil der Gage in eine Taxifahrt investieren sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Die frische Luft konnte nicht schaden und es gab so viele unbezahlte Rechnungen, er musste sparen.

Am nächsten Abend war René pünktlich im Stadthotel, er trank eine Tasse Kaffee, bevor er sich an den Flügel setzte, sich kurz konzentrierte und dann sein Spiel mit einem Filmtitel eröffnete. Ein Paar saß in der Hotelhalle bei einem Glas Wein. Sie schauten sich verliebt an und flüsterten leise miteinander. René dachte an Irina und verspielte sich prompt, ließ sich aber nichts anmerken sondern leitete geschickt in eine andere Tonart über und improvisierte eine Weile. Er bemerkte nicht, dass die Zuhörerin vom Vorabend wieder in dem blauen Sessel Platz genommen hatte. Er spielte Irinas Lieblingsstück, eine Filmmusik, den Titel hatte er vergessen, aber die Melodie brannte in seinem Herzen. Das Paar lauschte verzückt.
„Das ist unser Lied“, flüsterte die junge Frau und der Mann nickte. Er erhob sich, verbeugte sich leicht und forderte die Frau zum Tanz auf. Gedankenverloren tanzten die beiden und als der Schlussakkord verklungen war, applaudierten sie und traten zu René an den Flügel.
„Eine größere Freude hätten Sie uns heute nicht machen können, vielen Dank!“, sagte der Mann mit strahlendem Blick.
„Wir feiern unseren ersten Hochzeitstag“, erklärte die junge Frau und reichte René die Hand.

Die alte Dame beobachtete die Szene lächelnd. Klein und zerbrechlich wirkte sie, das helle Seidenkleid unterstrich ihre vornehme Blässe, nur die hohen Wangen waren leicht gerötet. Ein goldenes Medaillon an einer langen Kette war der einzige Schmuck, den sie trug. Sie nickte René kurz zu, als wollte sie sagen:
„Jetzt bin ich dran, spiel für mich!“
René legte die Hände auf die Tasten, schloss die Augen und spielte Chopin „Impromptu-Fantasie“ Op. 66, das Stück, das er bei seinem ersten Konzert spielen wollte, bevor ihn das Lampenfieber übermannte und er nicht auf die Bühne gehen konnte. Es gelang heute ohne einen einzigen Patzer und René erfüllte eine ungeheure Befriedigung, nachdem er geendet hatte.

Es waren weitere Gäste hinzugekommen, die sich in den Sitzgruppen niedergelassen hatten.
Die Dame saß ruhig in ihrem Sessel und lächelte. Ihre weiße Hand umschloss das Medaillon.
René begann erneut zu spielen, diesmal den dritten Satz der Mondscheinsonate. Auch dieses Stück hatte einmal zu seinem Konzertrepertoire gehört, aber er hatte es lange nicht gespielt. Trotzdem gelang es ausgezeichnet. René war glücklich. Er spielte und spielte, die vereinbarte Zeit hatte er längst überschritten, doch er konnte sich nicht vom Flügel lösen. Seine Wangen glühten.

Endlich ließ er die Arme sinken und schloss für einen Moment die Augen. Die wenigen Zuhörer spendeten Beifall. René erhob sich, deutete eine Verbeugung an und ging auf die Dame im blauen Sessel zu. Er nahm ihre Hand und deutete einen Handkuss an.
„Danke“, sagte er und die Dame sah ihn verwundert an.
„Ich habe Ihnen zu danken, Sie haben mich sehr glücklich gemacht heute und nicht nur mich. Schauen Sie das junge Paar dort drüben, sie sind verzaubert von der Musik. Es war einfach wunderschön.“
„Ich habe lange nicht spielen können, Sie waren es, die mir Mut gemacht hat. Dafür bedanke ich mich. Werden Sie morgen Abend wieder kommen?“, fragte René.
„Vielleicht“, antwortete sie mit einem Lächeln und erhob sich. Sie ließ sich von René in den Mantel helfen, lehnte aber sein Angebot ab, sie nach Hause zu begleiten.
„Lassen Sie nur, mein Herr. Ich werde erwartet.“
René sah ihr nach. Dann holte er seine Jacke und nahm seinen Umschlag beim Portier in Empfang. Vor dem Hotel schaute er sich nach der Dame um, sah sie aber nirgends.
‚Komisch’, dachte er, sie müsste doch noch irgendwo sein, so schnell konnte sie sicher nicht laufen und einen Wagen hatte er auch nicht bemerkt.
Insgeheim ärgerte er sich darüber, dass er sich nicht einmal vorgestellt hatte. Auf diese Weise hätte er ihren Namen erfahren, er fühlte sich mit ihr verbunden, denn sie hatte es geschafft, dass er musizieren konnte wie lange nicht mehr.
Seit Irina nicht mehr da war, gab es keinen Menschen, der diese Vertrautheit in ihm ausgelöst hatte. Irina war weit weg, in Russland, bei ihrer Familie. Ihre Mutter war sehr krank und brauchte die Tochter zu Hause. René verstand das, aber auch er brauchte jemanden, mit dem er reden konnte, für den es sich lohnte, morgens aufzustehen und sich dem Leben zu stellen. Das war manchmal nicht leicht, es gab Tage, da zog er sich die Decke übers Gesicht und weigerte sich, ins Antlitz des Morgens zu schauen.

Vielleicht kam die Dame ja am nächsten Abend wieder ins Hotel, dann würde er nach ihrem Namen fragen und vielleicht konnten sie ein Glas Wein trinken und ein wenig reden.

Am nächsten Abend war René enttäuscht, sie nicht zu sehen. Er machte sich Gedanken und fragte sich, ob sie möglicherweise krank geworden war. Die Vorstellung, dass sie dort im Sessel sitzen könnte, half ihm aber, sich wieder dem Klavierspiel hinzugeben. Er hatte sich schon im Laufe des Tages überlegt, welche Stücke er heute spielen sollte, um die Dame zu unterhalten und ihr eine Freude zu machen.
Anschließend ging er traurig nach Hause. Wieder dachte er an Irina und nahm sich vor, sie am nächsten Tag anzurufen. Vielleicht könnte er versuchen, das Geld für einen Flug nach St. Petersburg zusammen zu bekommen, damit er sie besuchen könnte.

In der Nacht träumte er davon, auf einer Bühne zu sitzen und Chopin zu spielen. Wieder war es die Fantasie Impromptu, die er vortrug und wieder spielte er sie fehlerfrei und ausdrucksvoll, so dass er selbst sich berauscht fühlte von der Musik, die sein ganzes Herz erfüllte. Als er sich erhob, um sich vor dem Publikum zu verbeugen, saßen lediglich zwei Frauen in der ersten Reihe des Konzertsaales. Irina und die alte Dame, beide applaudierten und erhoben sich von den Polstersesseln. René wollte die Bühne verlassen und zu den Frauen gehen, doch seine Beine gehorchten nicht.
„Irina!“, wollte er rufen, doch die Stimme versagte. Irina lächelte, dann nahm sie die alte Dame am Arm und beide verließen den Saal.
René wachte auf, sein Gesicht war tränennass und seine Hände zitterten, als er den Lichtschalter suchte.
Es dauerte lange, bis er sich wieder beruhigt hatte. Immer wieder hörte er innerlich den Anfang der Chopinmusik, die sein Herz rasen und ihn erst wieder ruhig werden ließ, wenn im Mittelteil die ruhigere Melodie ihn sehnsuchtsvoll ergriff. Er spürte, dass er zu Irina musste, der Traum hatte ihm ein deutliches Zeichen gegeben. Er brauchte sie wie die Luft zum Atmen.

Am Abend ging er ins Hotel, obwohl er sich kaum in der Lage fühlte, Klavier zu spielen. Inständig hoffte er, die ihm mittlerweile vertraute Dame anzutreffen, doch er wartete wieder vergebens. Die Zeit verging nicht, René spielte lustlos einige einfache Kompositionen. Er wusste, dass er auf diesen Job angewiesen war, wenn er nach St. Petersburg wollte und morgen würde er sich nach einer Zusatzarbeit umsehen. Vielleicht konnte er Zeitungen austragen oder irgendeine andere Arbeit finden. Wie gewohnt ging er zum Portier, um seine abendliche Gage abzuholen.
Herr Fischer händigte ihm zwei Umschläge aus.
„Der hier ist für Sie abgegeben worden!“, sagte er und wandte sich einem Gast zu, der ungeduldig mit den Fingernägeln auf den Tresen trommelte.
„Können Sie mir sagen, wer den Umschlag hinterlassen hat?“, fragte René. Doch der Portier hob ahnungslos die Schultern.
„Mein Dienst begann erst um sieben“, sagte er, „der Brief war schon da, als ich kam!“
Grußlos verließ René das Hotel, konnte es aber nicht erwarten, den Umschlag zu öffnen. Vorm Eingang blieb er stehen und riss das Kuvert auf.

„Lieber René, entschuldigen Sie, dass ich Sie so anspreche, aber Sie sind mir sehr vertraut, dass ich es mir erlaube. Sie haben mich mit ihrem Klavierspiel von Herzen erfreut, darum möchte ich Ihnen heute meinerseits einen Wunsch erfüllen. Ich habe etwas Geld beigelegt und bitte Sie es anzunehmen. Leider kann ich nicht mehr kommen, aber in meinem Herzen trage ich die Melodien, die sie für mich gespielt haben. Vielleicht werden Sie irgendwann verstehen, wie wichtig das für mich war. Mit herzlichen Grüßen wünsche ich Ihnen alles Gute für die Zukunft, Ihre Marie S.“

René hielt den Brief in der einen und die Geldscheine in der anderen Hand. Das alles kam ihm vor wie ein Traum. Das großzügige Geschenk ermöglichte ihm, schon bald nach Russland zu fliegen und seine Irina in die Arme zu schließen. Ein Wunder!
„Danke!“, rief René und einige Passanten blieben erstaunt stehen. Als René einen Freudensprung machte, schüttelten sie lächelnd die Köpfe.
„So ein verrückter Kerl, jung müsste man sein“, sagte der Taxifahrer zu seinem Kollegen. Dann öffnete er René die Beifahrertür seines Taxis.
„Steigen Sie ein, junger Mann. Wohl im Lotto gewonnen!“
„So ähnlich“, grinste René und ließ sich auf den Sitz fallen.

Am nächsten Morgen buchte er einen Flug nach St. Petersburg und einen Tag später war er auf dem Weg zu Irina. Er hatte sie nicht angerufen, weil er sie überraschen wollte.
Während des Fluges dachte er immer wieder an Marie. Wer war sie und woher kannte sie seinen Namen? Ob er sie jemals wieder sehen würde?
Um sich abzulenken studierte er eine Partitur und schon bald vergaß er die Welt um sich herum. Er war eins mit der Musik und schon bald würde er mit Irina wieder vereint sein.

Stunden später stand er vor ihrer Haustür. Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er den Klingelknopf drückte. Irina öffnete ihm. Sie war so klein und blass, ihre Augen, die vom Weinen gerötet waren, weiteten sich.
„Du?“, fragte sie, dann brach sie in Tränen aus und als er sie im Arm hielt, zitterte ihr Körper und bebte vor Schluchzen.
„Irina, Liebling, was ist denn nur los?“ René ahnte, dass ihr Gefühlsausbruch nichts mit seinem Erscheinen zu tun hatte.
„Sie ist tot“, stammelte sie. „Meine Mutter ist tot.“
In der Hand hielt sie ein goldenes Medaillon, das sie mit zitternden Fingern öffnete.
„Schau, das ist sie. Sie hat es mir kurz vor ihrem Tod geschenkt!“
René betrachtete das Foto im Inneren des Medaillons, es zeigte Marie.

© Regina Meier zu Verl

Rosen zum Valentinstag

Rosen zum Valentinstag

„Mein Mann schenkte mir immer eine rote Rose zum Valentinstag. Das hat er nie vergessen!“, erzählte Hilde ihrer Zimmernachbarin im Seniorenstift.
„Valentinstag?“ Bertha knurrte, wie sie es immer tat, wenn sie etwas nicht gut fand.
„Neumodischer Kram aus Amerika. Genauso unsinnig wie der Weihnachtsmann, Halloween und diese grässlichen Fleischklöße im Brötchen.“
„Meine Liebe, nicht alles ist unsinnig, was neu ist oder aus Amerika kommt!“ Hilde kannte das schon. Berta hatte an allem und jedem etwas auszusetzen.
„Dann bitte ich um ein Beispiel, Hilde. Ich wette, dass es nichts gibt, was mich überzeugen könnte!“
Hilde biss sich auf die Lippen. Berta hatte eine Gabe, alle ihr nicht genehmen Themen unter den Tisch fallen zu lassen.
„Der Valentinstag, meine Liebe, ist so ein Beispiel“, antwortete sie. „Ich mag ihn sehr.“
Berta schaute über Hildes Kopf hinweg aus dem Fenster. Sie sah aus, als wäre sie weit weg und hörte gar nicht mehr richtig zu. Wenn Hilde sich nicht täuschte, schimmerte da eine Träne in Bertas Augen. Sie glaubte zu ahnen, was in der Freundin vorging.
„Du …“, versuchte sie es, doch im gleichen Moment sagte Berta:
„Mir hat nie einer etwas geschenkt. Nicht zu Valentin und nicht zu Muttertag, nicht zu Ostern und auch nicht zu Weihnachten. Mein Mann und die Kinder …“ Sie brach ab.
Hilde schluckte, ängstlich erwartete sie, was Berta erzählen würde, denn das klang gar nicht gut. Hilde wusste nichts über die Nachbarin, vielleicht hätte sie nachfragen sollen, aber Berta war immer so ruppig.
„Was war mit deinem Mann und den Kindern?“, fragte sie vorsichtig nach.
„Nichts! Nichts war mit ihnen“, antwortete Berta nach einer kleinen Pause. „Mein Mann, der war halt so … so lieblos. Die Kinder haben es ihm nachgemacht, auch als er uns längst verlassen hatte“
Sie brach ab. „Ich rede zu viel. Das tut nicht gut.“
Hilde schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Ich will auch nicht jammern, hier geht es mir ja gut!“, nahm Berta das Gespräch wieder auf.
„Stimmt, es geht uns gut und manchmal darf man auch jammern, denn jedes Mal, wenn man über etwas redet, dann stellt man es ein wenig weiter von sich weg. Weißt du, wie ich es meine?“
Berta nickte. Ja, sie wusste, was ihr die Freundin sagen wollte. Sie wusste es ja selbst. Sie war ja nicht blöde. Im Kopf war ihr alles klar und sie hatte ihren Lieben, die in alle Winder verstreut weit weg von ihr lebten, längst verziehen. Im Kopf. Nicht im Bauch, und das war das Schwierige.
„Meine Damen“, sagte Clemens Strecker, der sich gerade ihrem Tisch näherte. Er deutete eine leichte Verbeugung an und zog dann seine Arme hinter dem Rücken hervor. In jeder Hand hatte er eine gelbe Rose, die er Berta und Hilde nun überreichte. „Darf ich mir einen kleinen Gruß zum Valentinstag erlauben?“
„Sie dürfen, mein Lieber!“, antworteten beide Frauen im Chor und ein Strahlen legte sich auf ihre Gesichter.
Irgendwie fand auch Berta den Valentinstag plötzlich schön, irgendwie.

© Regina Meier zu Verl & Elke Bräunling


Eine weitere Geschichte zum Valentinstag lest ihr hier: KLICK Lotta, Leon und der Valentinstag

Das Ginkgoblatt

Das Ginkgoblatt
Therese nutzte die dunkleren Tage, um mal wieder ausgiebig zu lesen. Im Sommer hatte sie dafür nur wenig Zeit. Da ging der Garten vor und die Arbeit an der frischen Luft. In der kälteren Jahreszeit begnügte sie sich mit kurzen Spaziergängen. Dafür reiste sie in ihren Büchern aber in die weite Welt. Schön war das! Sie konnte die Menschen, die nicht lasen und ihre freie Zeit vor dem Fernseher oder bei Computerspielen verbrachten, nicht verstehen. Welche Welten, welche Abenteuer blieben ihnen verschlossen! Ja, was war ein Leben ohne die Geschichten und die Fantasie? Nichts, gar nichts ersetzte die Bilder, die beim Lesen im Kopf entstanden.
Manchmal nahm sich Therese vor, eines der alten Bücher, die sie so liebte, noch einmal zu lesen. Dazu kam sie aber gar nicht, denn so viele wunderbare neue Bücher warteten auf sie. Sie bekam Angst, dass sie die gar nicht mehr alle schaffen konnte in ihrem Leben, das ja nicht ewig währte.
„Was für ein Angebot an wundervoller Lektüre! Fast stresst es ein bisschen“, murmelte sie.
„Dieses Zuviel tut nicht gut.“
Ihre Hände zitterten, als sie den Ebookreader, den sie neuerdings zum Lesen mehr schätzte als gebundene Bücher, die oft schwer in ihren Händen lagen, einschaltete. Eine Meldung erschien auf dem Display „Laden Sie den Akku auf“.
Schon wieder? Das war blöd, gerade jetzt hatte sie sich so auf das neue Buch gefreut. Sie schaltete den Reader wieder aus und hängte ihn ans Ladegerät. Dann holte sie sich doch eines der alten Bücher aus ihrem Bücherregal. Sie lächelte, als sie das Lesezeichen fand, das sie damals hineingelegt hatte, vor vielen Jahren. Es war ein Herbstblatt, das sie in jenem November getrocknet hatte. Vorsichtig, um es nicht zu zerstören, nahm sie das Blatt und betrachtete es. Seine Haut hatte Risse bekommen und die zarten Adern stachen hervor, doch sie hielten es noch immer zusammen.
„Du liebes altes Ding!“, murmelte sie. „Ganz vergessen hatte ich dich, nein, eigentlich doch nicht. Der Tag, an dem ich dich dort unter dem Ginkgo Baum gefunden hatte, wird immer in meiner Erinnerung bleiben.“
Sie schloss die Augen und sah sofort sein Gesicht vor ihrem inneren Auge. So lange schon hatte sie nicht mehr an ihn gedacht. Was er wohl machte? Ob er sie vergessen hatte?
Therese nahm sich vor, genau das in Erfahrung zu bringen. Vorsichtig legte sie das Blatt zurück in das Buch. Doch sie las nun nicht mehr. Die Erinnerungen und Gedanken in ihrem Kopf schrieben ganz andere Worte. Es waren zärtliche, sehnsuchtsvolle, aber auch ängstliche Worte. Und da war auch die Stimme, die so lange geschwiegen hatte.
„Flieh nicht länger nur in die Welten, die dir deine Bücher schaffen!“, raunte sie ihr lockend zu. „Nimm dieses Blatt als Zeichen und lebe, lebe endlich wieder!“
Therese lächelte. Ja, das wollte sie tun, genau das – leben. Noch war Zeit dafür, Träume wahr werden zu lassen. Genügend!

© Regina Meier zu Verl & Elke Bräunling

Die Geschichtenschreiberin und ihr Liegestuhl*

Die Geschichtenschreiberin und ihr Liegestuhl

Ich liebe meinen alten Liegestuhl. Es ist ein wackliger Holzstuhl, an dem man sich beim Aufstellen regelmäßig die Finger klemmt und das tut richtig weh. So oft habe ich ihn schon verflucht und ihn unsanft in die Ecke geschubst. Trotzdem hole ich ihn in jedem Jahr wieder aus seinem Verschlag, denn wenn man erstmal drin liegt, dann kann es keinen besseren geben. Meine Freundinnen beneiden mich heiß und innig um diesen Oldie unter den Stühlen. Und damit komme ich auch schon zu seiner Farbe. Der Stoff ist schlüpferrosa, vor Hässlichkeit schon wieder schön. Ehemals war er pinkfarben, durch die Kraft der Sonne ist er aber mittlerweile so ausgeblichen, dass das Schlüpferrosa es wirklich viel besser trifft.
Sommertags nehme ich schon mein Frühstück im Liegestuhl ein. Ich mag feste Rituale, wozu auch das obligatorische Marmeladenbrot gehört und natürlich Kaffee, aus meinem Lieblingsbecher, dem mit den Glückspilzen.
Auf dem Hocker neben mir muss mein Diktiergerät liegen, weil ich nämlich in meinem Liegestuhl die allerbesten Ideen habe. Wenn ich erstmal darin sitze, dann muss ich sitzenbleiben, denn das Aufstehen fällt mir zusehends schwerer, weil ich ja mit dem Hintern fast auf dem Boden hänge und richtig festhalten kann ich mich am Stuhl nicht. Ich will ihn ja nicht kaputtmachen. Nicht auszudenken, was ich ohne ihn machen sollte, wenn ich eine Sommergeschichte schreiben will. Also: das Diktiergerät liegt bereit und mein Handy natürlich, weil es doch immer mal wieder was zu recherchieren gibt, was nicht auf die lange Bank geschoben werden kann.
Erst neulich hatte ich diese Situation. Ich hatte den Liegestuhl im Wohnzimmer aufgebaut, wollte mir einfach das Sommerfeeling geben, weil eine Sommergeschichte angesagt war. Für den Garten war es aber noch viel zu kalt und die Nachbarn reden schon genug über mich. Die Idee für eine Geschichte war längst geboren, allein das Gefühl dafür fehlte mir noch. Ich liebe es, wenn meine Geschichten möglichst authentisch rüberkommen und dazu gehört, dass ich sie im passenden Möbelstück ersinne. Schreib ich zum Beispiel über eine Krankheit, dann liege ich im Bett, habe Tee auf dem Nachtschränkchen und ein Fieberthermometer im Mund. Aber ich will nicht abschweifen. Also: ich lag im Liegestuhl im Wohnzimmer und wollte etwas über eine dreifarbige Glückskatze schreiben. Die haben einen besonderen Namen und der wollte mir partout nicht einfallen. Recherche war angesagt und dann kam es, das Handy lag nicht bereit, um mal eben ins Internet zu schauen. Ich fluchte laut, entschuldigte mich beim Wellensittich, der dummerweise jedes Wort versteht und quälte mich aus dem Stuhl, der, als ich so richtig zupackte, zusammenklappte und ich mit ihm. Das wäre nicht so tragisch gewesen, wenn nicht der Spielzeugtrecker meines Enkels direkt unter dem Liegestuhl gestanden hätte. Fragen Sie mich nicht, wie er dahin gekommen ist, auf jeden Fall war er da und ich landete mit dem Po direkt auf diesem Eisenteil, das ja unter dem rosa Stoff nicht zu sehen gewesen war, was auch eigentlich egal war, denn gestürzt wäre ich ja auch, wenn ich es gesehen hätte.
Zwei weitere Flüche später hatte ich mich auf die Knie gerollt und zog mich an der antiken Kommode hoch, die glücklicherweise sehr stabil ist und ganz nahe bei mir stand. Du meine Güte, wie schmerzte mein Hinterteil, unglaublich. Da ich noch im Schlafanzug war, zog ich die Hose runter, um den Schaden zu begutachten, konnte mich aber nicht soweit drehen, dass ich einen Blick auf meine hintere Hälfte tun konnte, also stolzierte ich vorsichtig in Richtung Bad, stellt mich vor den Spiegel, rückwärts, und schaute mir über die Schulter. Das hätte ich besser nicht gemacht, denn was ich da sah, das verdarb mir den Tag und den nächsten und die ganze Woche, wenn nicht sogar zwei. Der „Schlagschaden“ war noch gar nicht zu sehen, er schmerzte nur, aber der Hintern, meine Güte, wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich längst eine Diät eingelegt. Verzweifelte Tränen! Sturzbachartig! Dann die Erkenntnis: Der Spiegel geht nicht richtig, genau wie die Waage, wir sollten beides bei Gelegenheit ersetzen. Am Tag später kaufte ich mir eine Zehnerkarte fürs Schwimmbad, schwimmen ist immer gut. Bereits morgens um sechs ziehe ich seitdem meine einsamen Bahnen, ich möchte nicht, dass jemand den blauen Fleck entdeckt.
Mittlerweile habe ich den Schock fast überwunden, den Liegestuhl kann ich nun sogar schon wieder draußen aufstellen, weil der Frühling in diesem Jahr recht zeitig gekommen ist. Unterm Hintern liegt aber jetzt immer ein dickes Kissen, vorsichtshalber, denn man weiß ja nie, wann mein Lieblingsmöbelstück mal wieder verrückt spielt und mich abwirft, nicht wahr?

© Regina Meier zu Verl

Baumgrüne Gedanken

Baumgrüne Gedanken

Aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers schaute Johanna direkt in die Krone der alten Buche. Zu jeder Jahreszeit war dort etwas los, so dass Johanna die Geschichten rund um die Buche einfach nur aufschreiben musste.
Heute unterhielten sich zwei Rotkehlchen miteinander. Johanna spitzte die Ohren und versuchte, etwas zu verstehen von ihrer Unterhaltung.
„Es ist ruhig geworden hier überall. Was ist mit den Kollegen und wo stecken sie alle?“, fragte das eine Rotkehlchen.
„Sie sind zur großen Reise aufgebrochen. Zumindest viele von ihnen“, antwortete das andere.
„Zur großen Reise? Ja, ist es schon wieder so weit?“
Eine winzige Blaumeise mischt sich ein. „Meine Eltern haben gesagt, dass die Stare sich seit Tagen versammeln, um in den Süden zu fliegen und die Störche sind auch schon weg. Gott sei Dank, vor denen habe ich nämlich Angst!“
„Meine Freunde, die Finkenkinder, kann ich auch nirgends entdecken“, piepte die kleine Blaumeise. „Sind sie auch Reisende?“
„Viele von uns sind Reisende“, erzählte die Starenmama. „Wir wären auch schon längst weg, wenn wir nicht unseren Jüngsten vermissten. Der Bengel treibt sich wieder irgendwo herum und verpasst die wichtigen Dinge im Leben.“ Sie seufzte.
Johanna wagte es nicht, sich zu bewegen. So gern hörte sie den Vögeln zu und ihre Sorgen unterschieden sich fast gar nicht von denen der Menschen. Beinahe hätte sie kichern müssen, denn ihr Ältester war auch immer auf Achse gewesen. Wie oft hatte sie ihn suchen müssen. Einmal sogar hatte große Aufregung geherrscht: Fabian, damals fünf Jahre alt, war schon über vier Stunden verschwunden und sie hatten ihn überall, wirklich überall gesucht, die ganze Familie, die Freunde, die Nachbarn. Nichts. Fabian war weg. Sie hatte geglaubt, verrückt zu werden. Um sich zu beruhigen, hatte sie sich ans Fenster gestellt. Das tat sie immer, wenn sie Ruhe suchte oder aufgeregt war. Der Blick ins Baumgrün konnte Wunder wirken. Doch was sah sie damals im Baumgrün sitzen und feixen?
Fabian! Er strahlte sie an mit diesem Blick aus warmen Augen, dem Johanna nie widerstehen konnte, und sagte: „Das war toll heute! Alle haben mich gerufen! Du, Mama, ich glaube, sie haben mich alle lieb. Und jetzt habe ich Hunger.“
Und wie ein Äffchen war er den Baum hinabgeklettert. Wer konnte ihm da böse sein?
Während Johanna ihren Gedanken nachging, hatte sich die Vogelversammlung aufgelöst. Sicher waren sie nun alle miteinander auf die Suche nach dem Starenjungen gegangen. Ob er auch in der Buche hockte, irgendwo versteckt?
Johanna zog ihr Schultertuch enger um ihre Schultern, sie fröstelte. Ein Tee würde ihr guttun.
„Mutter, kommst du zum Essen?“ Das war Fabian. Johanna lächelte. ‚Er kann Gedanken lesen‘, dachte sie und verließ ihr Zimmer, um mit der Familie zu Abend zu essen.

© Regina Meier zu Verl

Mama kann ins Herz schauen

Mama kann ins Herz schauen

Achim mag es gar nicht, wenn er sich verkleiden muss. Mama besteht aber darauf.
„Alle verkleiden sich, willst du denn als Außenseiter dastehen?“, fragt sie und hält ihm ein kariertes Hemd hin, eine Lederweste und ein Halfter für eine Pistole.
„Nun mach schon! Du wirst toll darin aussehen.“
Am liebsten möchte Achim am Rosenmontag gar nicht zur Schule gehen. Er findet Karnevalsfeiern blöd, superblöd sogar. Warum kann er nicht einfach er selbst sein? Zuhause bleiben darf er aber nicht, weil der Rosenmontag ein ganz normaler Schultag ist. Normal? Was ist daran normal?
Achim wagt noch einen Versuch, obwohl er bereits aus früheren Jahren weiß, dass er scheitern wird.
„Ich habe Halsweh!“, behauptet er und verstellt seine Stimme ein bisschen, damit sie sich krank anhört.
Mama hat ihn natürlich längst durchschaut. Aber sie spielt das Spiel mit.
„Sag mal AAAAA!“ Sie nähert sich ihm mit einem Löffel, den sie auf die Zunge legen will, um seinen Rachen genauer betrachten zu können. Tapfer hält Achim seinen Mund auf und lässt Mama in sein Innerstes schauen. Wenn sie doch nur sehen könnte, wie schlecht es ihm geht. Es ist ja nicht der Hals, der schmerzt. Es ist sein Herz und das kann Mama durch den Mund nicht sehen. Er schluckt und aus seinen Augen kullern Tränen.
„Mmh!“, sagt Mama. „Das sieht nicht gut aus, gar nicht gut!“ Sie legt den Löffel in die Spüle und zieht Achim auf ihren Schoß. Aus den Kullertränen werden Sturzbäche. Achim schluchzt und schmiegt sich an Mama. Sollte sie etwa doch bis in sein Herz geschaut haben?
„Ich schlage vor, dass wir beide heute zu Hause bleiben. Kuschel du dich nochmal in dein Bett. Ich rufe meinen Chef und deine Lehrerin an und melde uns ab. Ich habe sowieso noch einige Urlaubstage zu bekommen.“
Achim ist erleichtert, ein dicker Stein plumpst ihm vom Herzen.
Als die beiden später bei einer Tasse Kakao in der Küche sitzen, fragt er Mama:
„Hast du in mein Herz geschaut Mama? Hast du gesehen, dass es mir ganz doll weh tut?“
„Ja!“, sagt Mama. „Und dann habe ich mich daran erinnert, wie ungern ich mich verkleidet habe und wie ich gelitten habe, wenn ich als Hexe, Prinzessin oder Rosenresli in die Schule gehen musste. So sind wir eben und so bleiben wir auch. Nicht jeder kann alles gut finden, nicht wahr?“
„Du bist die Beste!“, jubelt Achim und dann will er natürlich wissen, wer denn das Rosenresli ist.

© Regina Meier zu Verl 2016


Und wenn ihr, liebe Leser, das auch wissen möchtet, weil ihr noch nicht ganz so alt wie ich seid, dann schaut hier ROSENRESLI

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Wenn ich mir selbst Geschichten erzähle

„Oma, warum machst du das?“, fragt mich mein Enkel, als er in mein Zimmer kommt und mich dabei erwischt, wie ich mir selbst eine Geschichte vorlese.
„Was meinst du?“
„Na, du kennst doch deine Geschichten schon alle. Warum liest du sie dir dann vor?“, will er wissen.
„Ich übe!“, erkläre ich.
„Aber warum? Du bist doch längst aus der Schule, musst du immer noch üben?“
Er staunt, für ihn sind Hausaufgaben ein Gräuel.
„Es macht mir Spaß und außerdem macht es mich sicherer, wenn ich anderen vorlese!“, mache ich noch einmal einen Erklärungsversuch.
„Ach so!“ Er überlegt. „Für mich liest du perfekt, ich finde nicht, dass du noch üben musst!“, behauptet er und das tut meiner Seele richtig gut. Trotzdem erwidere ich: „Perfekt bin ich ganz sicher nicht!“
„Do-hoch!“, sagt er ernst. „Du bist die perfekteste Regina, die ich kenne.“

Er kennt nur eine, aber das spielt keine Rolle. Ich lege mein Manuskript zur Seite und knuddel ihn, das kann ich ohne zu üben!

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Bildquelle congerdesign/pixabay

 

Das kannst du nicht

Das kannst du nicht

Mucksmäuschenstill wurde es, als sich Esther erhob und in die Mitte des Raumes stellte. Sie blickte kurz in die Runde, lächelte und schlug ihr Buch auf und begann zu lesen:
„Ich lese ein Kapitel aus meinen Kindheitserinnerungen.
Es war ein paar Tage nach meinem sechsten Geburtstag. Ich hatte von meinen Eltern ein Fahrrad bekommen, konnte aber noch nicht fahren. Wie auch? Ohne Fahrrad war das eben unmöglich gewesen. Heute fangen die Kinder mit Laufrädern an, oder mit dem Dreirad. Meist können sie dann schon fahren und benötigen auch keine Stützräder mehr, wenn sie ein „richtiges“ Fahrrad bekommen.
Für mich war es schwer, das Fahren zu erlernen, denn ich war von jeher ein ängstliches Kind gewesen. Geschürt durch die Ängste meiner Mutter traute ich mir nichts zu. Aber ich war ehrgeizig, und das in jeder Beziehung, sogar beim Fahrradfahren.“
Esther hielt kurz inne und schaute in die Runde. Sie entdeckte kein bekanntes Gesicht, was nicht ungewöhnlich war, denn sie war heute in einer für sie völlig fremden Stadt. Wenn sie daheim Lesungen hielt, dann kamen oft die gleichen Zuhörer, was angenehm war und doch wieder nicht. Stets zweifelte Esther nämlich, ob sich jemand auf den Schlips getreten fühlte, wenn sie wahre Geschichten erzählte und so vermied sie, zu Hause aus ihren Kindheitserinnerungen vorzulesen. Bei diesem ersten Absatz hätte sich ihre Mutter sicherlich geärgert. Sie hörte ihre Stimme: „Geschürt durch die Ängste meiner Mutter? Was soll das denn heißen? Habe ich nicht alles für dich getan?“
Esther räusperte sich und fuhr fort:
„Mutig stieg ich immer wieder auf, immer und immer wieder, und schaffte es nach einiger Zeit ein paar Meter zu fahren, sprang dann aber wieder vom Rad und blieb mit klopfendem Herzen daneben stehen. Mama gab Anweisungen vom Straßenrand aus. „Kind, fahr vorsichtig! Pass auf, da kommt ein Schlagloch, du musst es umfahren. Sitz doch nicht so verkrampft! Du musst nach vorn schauen!“
Ich weiß, dass Mama es gut meinte. Aber manchmal ist eben weniger mehr. Sie traute es mir nicht zu, dass ich es schaffen würde. Erst viel später habe ich verstanden, warum das so war. Sie selbst hatte als Kind kein Fahrrad gehabt, es waren Kriegszeiten und auch ihre Mutter, meine Großmutter, war eine eher ängstliche Person. Ihre eigenen Wünsche stellte sie stets hintenan und versuchte meinem Großvater alles recht zu machen. Der nutzte das aus, was ich allerdings als Kind nicht so gesehen habe. Ich liebte meinen Opa sehr und er hat ein sehr wichtiges Stück meiner Kindheit wunderschön bereichert und in mir die Liebe zur Literatur, der Musik und zur Natur erweckt. Jedenfalls glaube ich, dass er es war, denn in vielen Dingen finde ich mich wieder und noch heute denke ich sehr viel an ihn. Er traute mir alles zu und sagte niemals den Satz: Das kannst du nicht!“
Im Publikum bekam jemand einen Hustenanfall. Esther unterbrach ihren Vortrag für einen Moment, nahm einen Schluck Wasser und setzte erst wieder an zu erzählen, als sich die Dame wieder gefangen hatte. „Entschuldigen Sie!“, rief die Frau. Doch Esther wehrte ab. „Alles ist gut!“, sagte sie.
„Nein, ist es nicht!“, schluchzte die Frau und alle sahen sich erstaunt nach ihr um. Was war denn nur in sie gefahren? Jemand reichte ihr ein Taschentuch und ein Glas Wasser. Die Anwesenden murmelten leise. Esther war verunsichert. Sollte sie ihren Vortrag fortsetzen, so, als sei nichts gewesen? Innerlich entschied sie sich dagegen, aber sie war nicht sicher, was man nun von ihr erwartete. Eine derartige Situation hatte sie noch nicht erlebt. Allerdings blitzte ein kleiner Hoffnungsschimmer, die Lesung zu retten, in ihr auf, als sie spontan ihre Gitarre zur Hand nahm, sich auf den Barhocker setzte, den man für sie bereitgestellt hatte und ein paar leise Akkorde anschlug. Sofort wurde es wieder still. Esther spielte eine Weise, die sie auch zu Hause spielte, wenn sie sich beruhigen wollte. Das funktionierte eigentlich immer und auch die Zuhörer genossen die butterweiche Melodie und die perlenden Tonfolgen. Während sie spielte, beschloss sie, die Erinnerungsgeschichte vorsichtig wieder aufzunehmen, ließ aber die Stellen aus, die eine erneute Traurigkeit verursachen könnte.
„Ich komme nun zum Ende dieses Kapitels meiner Kindheitserinnerungen, damit wir uns einer anderen Geschichte widmen können. „Das kannst du nicht!“, war ein Satz in meiner Kindheit, den ich oft zu hören bekommen habe. Vielleicht war es gerade dieser Satz, der mich gestärkt hat, denn ich wollte allen beweisen, dass ich eben doch kann, was ich können möchte! Ich fiel hin und stand wieder auf, richtete meine Krone, wie man heute so treffend sagt und wurde zu der Frau, die ich heute bin. Und ja, ich kann sagen, dass ich eine glückliche Kindheit mir kleinen Hindernissen hatte. Doch es waren nur kleine Steine, die da im Weg lagen. Ich habe sie zur Seite gekickt und weitergemacht!“
Esther schlug ihr Buch zu und ihr erster Blick ging in Richtung der Frau, die noch vor ein paar Minuten vom Weinen geschüttelt wurde. Sie saß entspannt auf ihrem Stuhl und lächelte Esther an. Nach der Lesung kam sie zu ihr und bedankte sich für den Abend. „Ich kann das auch! Sie haben mir Mut gemacht!“, sagte sie und drückte Esther die Hand.

© Regina Meier zu Verl