Mama kann ins Herz schauen
Achim mag es gar nicht, wenn er sich verkleiden muss. Mama besteht aber darauf.
„Alle verkleiden sich, willst du denn als Außenseiter dastehen?“, fragt sie und hält ihm ein kariertes Hemd hin, eine Lederweste und ein Halfter für eine Pistole.
„Nun mach schon! Du wirst toll darin aussehen.“
Am liebsten möchte Achim am Rosenmontag gar nicht zur Schule gehen. Er findet Karnevalsfeiern blöd, superblöd sogar. Warum kann er nicht einfach er selbst sein? Zuhause bleiben darf er aber nicht, weil der Rosenmontag ein ganz normaler Schultag ist. Normal? Was ist daran normal?
Achim wagt noch einen Versuch, obwohl er bereits aus früheren Jahren weiß, dass er scheitern wird.
„Ich habe Halsweh!“, behauptet er und verstellt seine Stimme ein bisschen, damit sie sich krank anhört.
Mama hat ihn natürlich längst durchschaut. Aber sie spielt das Spiel mit.
„Sag mal AAAAA!“ Sie nähert sich ihm mit einem Löffel, den sie auf die Zunge legen will, um seinen Rachen genauer betrachten zu können. Tapfer hält Achim seinen Mund auf und lässt Mama in sein Innerstes schauen. Wenn sie doch nur sehen könnte, wie schlecht es ihm geht. Es ist ja nicht der Hals, der schmerzt. Es ist sein Herz und das kann Mama durch den Mund nicht sehen. Er schluckt und aus seinen Augen kullern Tränen.
„Mmh!“, sagt Mama. „Das sieht nicht gut aus, gar nicht gut!“ Sie legt den Löffel in die Spüle und zieht Achim auf ihren Schoß. Aus den Kullertränen werden Sturzbäche. Achim schluchzt und schmiegt sich an Mama. Sollte sie etwa doch bis in sein Herz geschaut haben?
„Ich schlage vor, dass wir beide heute zu Hause bleiben. Kuschel du dich nochmal in dein Bett. Ich rufe meinen Chef und deine Lehrerin an und melde uns ab. Ich habe sowieso noch einige Urlaubstage zu bekommen.“
Achim ist erleichtert, ein dicker Stein plumpst ihm vom Herzen.
Als die beiden später bei einer Tasse Kakao in der Küche sitzen, fragt er Mama:
„Hast du in mein Herz geschaut Mama? Hast du gesehen, dass es mir ganz doll weh tut?“
„Ja!“, sagt Mama. „Und dann habe ich mich daran erinnert, wie ungern ich mich verkleidet habe und wie ich gelitten habe, wenn ich als Hexe, Prinzessin oder Rosenresli in die Schule gehen musste. So sind wir eben und so bleiben wir auch. Nicht jeder kann alles gut finden, nicht wahr?“
„Du bist die Beste!“, jubelt Achim und dann will er natürlich wissen, wer denn das Rosenresli ist.
© Regina Meier zu Verl 2016
Und wenn ihr, liebe Leser, das auch wissen möchtet, weil ihr noch nicht ganz so alt wie ich seid, dann schaut hier ROSENRESLI
