Reizwortgeschichte:

Obstschale, Frucht, merkwürdig, erwähnen, kümmern
Das waren die Wörter, die zu verarbeiten waren. Da Lore heute nicht mitschreibt, verlinke ich zu meiner Kollegin Martina, die auch eine Geschichte mit diesen Wörtern geschrieben hat.
Von-Herz-zu-Herz-Geschichten


Jules Geheimnis
Fast jeden Tag trafen sich Jule und Cora am Nachmittag zum Spielen. Sie waren gute Freundinnen, die besten überhaupt. Eine kümmerte sich um die andere, wenn eine von ihnen mal traurig war. Auch alle Freuden teilten sie miteinander.
Ich muss wohl nicht erwähnen, dass sie, wenn in der Obstschale nur noch eine Frucht lag, sie diese schwesterlich teilten und das war immer so, bis zu dem merkwürdigen Tag, an dem ihre Freundschaft beinahe zerbrochen wäre.
Aber von vorn:
Es war ein Dienstag. Die Sonne schickte die ersten wärmenden Strahlen auf die Erde und das hob die Laune der Menschen um einiges an. Auch Jule und Cora waren guter Dinge. Sie hatten sich bei Jule getroffen und spielten im Garten. Cora hatte zwei Bücher mitgebracht und schlug ein neues Spiel vor.
„Das spiele ich immer mit Opa“, sagte sie und erklärte Jule die Regeln.
„Jede bekommt ein Buch. Eine von uns beginnt zu lesen, bis die andere STOP sagt. Dann liest die andere weiter, aber in ihrem eigenen Buch. Das ist manchmal zu komisch, weil sich die unmöglichsten Situationen ergeben!“
So richtig begeistert war Jule von diesem Spiel nicht, aber der Freundin zuliebe wollte sie es ausprobieren. Sie spielten Schnick-Schnack-Schnuck und Jule durfte beginnen.
Sie begann langsam und ein wenig stockend zu lesen: In einer Waldhütte in den Bergen lebte der kleine dicke Bär Valentin mit seiner Mutter und seinen beiden Brüdern. Die Brüder Tim und Tom waren Zwillinge und sie tobten am liebsten über die Bergwiesen, während Valentin sich langweilte.
„STOP!“, rief Cora und begann nun selbst zu lesen.
Familie Biedermann war einmal wieder umgezogen, diesmal in eine große Stadt. Die Kinder waren nicht begeistert, weil sie all ihre Freunde zurücklassen mussten. Aber es ging nicht anders. Der Vater hatte eine neue Stelle gefunden, die er annehmen musste und es wäre viel zu weit gewesen, jeden Tag zur Arbeit zu fahren.
„STOP!“, rief Jule. „Das passt gar nicht zusammen und lustig ist es auch nicht!“, schimpfte sie.
Doch Cora ließ sich nicht beirren. „Geduld musst du haben, das wird schon noch lustig!“, meinte sie.
„Na gut“, sagte Jule und fing wieder an zu lesen:
In einer Waldhütte in den Bergen lebte der kleine dicke Bär Valentin…
„Halt! Du musst an der Stelle wieder anfangen, an der du vorhin aufgehört hast. Sonst macht es doch keinen Sinn!“, rief Cora dazwischen.
Wütend klappte Jule das Buch zu und warf es auf den Rasen.
„Du willst mir nur beweisen, dass du besser lesen kannst als ich. Für mich macht es keinen Sinn, das mit dir zu spielen, du Streberin. Das sagen alle in der Klasse und sie haben wohl recht!“, rief sie und dicke Tränen standen ihr in den Augen vor lauter Wut.
Cora wusste nicht, wie ihr geschah. Was war denn nun auf einmal los? Sie hatte doch nur spielen wollen und außerdem fand sie, dass die Freundin gut lesen konnte. Sie konnte nicht ahnen, wie anstrengend es für Jule war, sich auf einen Text zu konzentrieren. Das Lesen ging für sie eben nicht so leicht wie für Cora. Sie musste zu Hause immer wieder üben, üben und nochmals üben.
Das hatte sie aber noch nie jemandem erzählt. Wer möchte schon gern für einen Dummkopf gehalten werden.
„Jule, ich dachte, es ist ein lustiges Spiel. Es tut mir leid, wenn es dir keinen Spaß macht. Spielen wir eben etwas anderes!“, schlug Cora vor, die auf keinen Fall Streit mit der Freundin haben wollte. Aber Jule wollte nicht mehr spielen. Eigentlich wollte sie nur noch ihre Ruhe haben. Aber sie konnte Cora doch nicht wegschicken. Jule war ratlos.
Die Lage entspannte sich, als Jules Mama mit einem Teller leckerer Waffeln erschien.
„So, ihr Zwei, hier habe ich einen kleinen Snack für euch. Lasst es euch schmecken!“, sagte sie, bemerkte aber die angespannte Stimmung und als sie in Jules Augen sah, erblickte sie die Tränen, die dort ein Hochwasser auslösten und dann prompt über das Gesicht der Tochter strömten.
Entsetzt schaute Cora die Freundin an und stammelte: „Ich habe gar nichts gemacht! Jule, sag deiner Mama doch, dass ich gar nichts gemacht habe.“
„Hat sie nicht!“, sagte Jule unter Tränen.
Mama reichte ihr ein Taschentuch und dann beruhigte sie Cora. „Wir klären das schon, ich bin sicher, dass es nicht deine Schuld ist.“
Als Jule sich beruhigt hatte, erzählte sie von dem Spiel, und dass es ihr so schwergefallen sei, den Text zu lesen und das Spiel zu verstehen und darüber habe sie sich so geärgert, dass sie Cora die Schuld gegeben hätte, obwohl die nun gar nichts dafür konnte.
„Weißt du Cora, Jule kann sich schlecht konzentrieren und hat Probleme beim Lesen. Aber sie macht es mittlerweile schon recht gut und es wird immer ein wenig besser. Man nennt das eine Leseschwäche und es gibt viele Kinder, die das haben.“
Cora nickte. Das verstand sie ja, aber warum hatte Jule ihr das nie erzählt, dann hätte sie doch nicht dieses Spiel vorgeschlagen. Nicht lag ihr ferner, als die Freundin bloßzustellen.
„Es tut mir leid!“, flüsterte sie und reichte Jule die Hand.
„Das muss es nicht! Es war blöd von mir. Ich hätte dir sagen müssen, dass ich dieses Leseproblem habe. Das konntest du doch nicht wissen.“

Nachdem sich Jule und Cora die Waffeln hatten schmecken lassen, beschlossen sie, von nun an, nie wieder etwas zu verschweigen, was zu Missverständnissen führen könnte. Jule war auch erleichtert, dass Cora das mit der Leseschwäche gar nicht schlimm fand und insgeheim ärgerte sie sich über sich selbst. Schließlich hatte sie Cora als Streberin beschimpft, das war auch nicht nett gewesen.
Aber eine echte Freundschaft hält so etwas aus, man muss einfach nur drüber reden.

© Regina Meier zu Verl 2022

5 Kommentare zu „Reizwortgeschichte:

  1. Liebe Regina, das ist ja ein tolles Spiel. Das kannte ich noch gar nicht! – Das macht doch eine wahre Freundschaft aus, dass sie auch solche Momente aushält. – Von meinen Enkeln kenne ich diese Situationen. Manchmal sind auch beste Freundinnen echt blöd. Doch das legt sich recht schnell! 🙂 – Danke dir für diese wertvolle Geschichte über eine tiefe Freundschaft! LG Martina

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  2. welch eine interessante Geschichte die mal wieder ganz genau beweist wie wertvoll & wichtig Vertrauen, zuhören, und gegenseitige Offenheit ist…
    klar möchte man, dass Jede Art der Freundschaft lange hält, auch schwere und schwierige Zeiten übersteht, sich im Gegenteil festigt wenn sich Menschen zueinander öffnen.
    Sich zu verstehen im Miteinander – ist wohl eine der schwierigsten Brücken über die Menschen gehen.
    ich hab mich gefreut deine Geschichte zu lesen,…
    in all deinen Geschichten steckt – trotz aller Leichtigkeit – viel nachdenken darin…
    herzlichste Grüße angelface….

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