Noch ist Zeit
‚Eine Weihnachtsgeschichte kann ich immer schreiben’, dachte sie und zündete die Kerzen des Adventskranzes an. Lange schaute sie in das warme Licht und ihre Gedanken wanderten an einen Ort, den sie als Kind so geliebt hatte.
Es war das kleine Treibhaus ihres Großvaters. Sie konnte nicht hineinsehen, denn die Scheiben waren beschlagen. Auf dem Dach thronte eine dicke Schneedecke und aus dem Schornstein stiegen kleine Wölkchen in den Winterhimmel.
Sie öffnete die Tür, alles war noch so, wie es gewesen war, als sie mit ihrem Großvater dort gesessen hatte. Sie schnupperte, Bratapfelduft stieg ihr in die Nase und unwillkürlich summte sie das Lied vom kleinen Apfel.
Ach, war das schön damals. Wie viele Geschichten hatte Opa erzählt, es müssen hunderte gewesen sein. An viele konnte sie sich noch gut erinnern, andere kamen ihr im Lauf der Zeit in den Sinn, deren Ausgang sie nicht mehr wusste und neu erfinden musste.
So war sie zur Schreiberin geworden und sie liebte es, in den alten Geschichten zu suchen und immer wieder neue Gedanken zu finden, von denen sie erzählen konnte.
Der Großvater wachte längst an einem anderen Ort über sie, heute aber hatte sie das Gefühl, ihm ganz nah zu sein. Sie spürte seine Anwesenheit so deutlich wie noch niemals zuvor, seit er vor ein paar Jahren unter seinem Apfelbaum eingeschlafen war.
„Ich habe dir einmal sehr weh getan, lieber Opa“, flüsterte sie und bei der Erinnerung daran, dass sie ihn verraten hatte, zog sich ihr Herz zusammen, so dass sie beinahe keine Luft mehr bekam. Wie eine Befreiung fühlten sich da die Tränen an, die sich langsam ihren Weg bahnten und dann liefen und liefen. Großvater hatte ihr vergeben, weil er sie geliebt hatte.
„Vergibst du nicht deinen Kindern immer und immer wieder, wenn sie dich verletzt haben? Gibst du nicht jedem Menschen eine neue Chance, auch wenn er dich noch so gequält hat?“, fragte sie sich und schluckte bei der Antwort, die sie sich selbst gab: „Ich bin nur ein Mensch und ich habe das Recht, auch mal auf jemanden wütend zu sein. Ich kann vergeben, ja das kann ich und ich beweise es immer wieder!“
In Gedanken malte sie ein Herz an die beschlagene Scheibe und dachte an die Person, der sie das Verzeihen nicht gegönnt hatte. Das Bild, das vor ihrem inneren Auge entstand, zeigte die Frau in einem warmen Licht, mit einem bittenden Lächeln auf den Lippen. Da wusste sie, dass ihr Leben neu anfangen könnte, wenn sie endlich auch diesem Menschen vergab. Noch war Zeit dazu, noch konnte sie gut machen, was man in diesem Leben erledigen sollte.
Sie blies das Kerzenlicht aus, zog eine Jacke an und machte sich auf den Weg.
© Regina Meier zu Verl