Leo schreibt Tagebuch

Leo schreibt Tagebuch

„Jungs schreiben keine Tagebücher, Mädchen machen das!“, behauptete Opa Rolf und verzog dabei das Gesicht, als grusele er sich vor etwas ganz besonders Ekligem.
„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“, rief Oma, die im Nebenzimmer an ihrem Schreibtisch saß. „Du bist und bleibst ein unverbesserlicher … ach, ich weiß auch nicht, was!“, schimpfte sie.
Ich grinste, weil ich es ziemlich lustig fand, wenn Oma und Opa stritten. So ein richtiger Streit war das eigentlich nicht, meist hatten sie sich nach einer Stunde wieder lieb. Bei meinen Eltern sah das ganz anders aus, die konnten sich ganz schön zoffen, so mit Worten, meine ich. Lustig war das aber dann nicht und es konnte bis zu zwei Tagen andauern, dass sie danach nicht mehr miteinander sprachen.
„Früher war das jedenfalls so“, verteidigte sich Opa und schüttelte unwillig den Kopf. Gleich würde er sagen ‚Früher war eben alles anders‘.
„Früher war eben alles anders, man kennt sich gar nicht mehr aus!“, schimpfte er nun auch. Ich lachte laut auf und erntete einen bitterbösen Blick.
„Du musst mich gar nicht auslachen, mein Junge. Früher haben wir Jungs im Wald gespielt, Räuber und Gendarm war eines unserer Lieblingsspiele. Oder wir haben geangelt und dafür stundenlang Regenwürmer ausgegraben. Das war schön. Zum Tagebuch schreiben hatten wir keine Zeit, echt nicht.“
„Igitt, Regenwürmer ausgebuddelt habt ihr? Und dann die unschuldigen Tiere an einen Angelhaken gemacht, um die noch unschuldigeren Fische aus dem Bach zu angeln?“, fragte ich nach. Oma kam zu uns ins Zimmer, das Thema interessierte sie wohl.
„Ist denn das Angeln mit lebendigen Ködern heute noch erlaubt?“, wollte sie von Opa wissen.
„Soweit ich weiß darf man mit Würmern angeln, aber nicht mit lebenden Köderfischen. Das ist verboten!“, erklärte Opa. „Aber du weißt ja, dass ich meine Angel schon seit Ewigkeiten nicht angerührt habe.“
„Dann hättest du ja genügend Zeit gehabt, ein Tagebuch zu schreiben!“, feixte Oma. Mir ging das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Oma ergriff Partei für mich, super.
„Jungs schreiben kein Tagebuch …“, sagte Opa, und Oma und ich antworteten einstimmig: „Mädchen machen das!“ Dann lachten wir alle drei und schließlich gab Opa sogar zu, dass es eigentlich Blödsinn war, so etwas zu behaupten. Plötzlich fiel Opa ein, dass es viele berühmte Männer gab und gegeben hatte, die Tagebücher geschrieben hatten. „Ich glaube, Thomas Mann hat Tagebücher geschrieben und Franz Kafka auch, das habe ich erst neulich irgendwo gelesen. Vielleicht sollte ich doch einmal darüber nachdenken und auch schreiben“, meinte er noch und griff nach meinem Tagebuch. „Ein schönes Buch hast du da!“
Ich nickte. „Stimmt, aber es ist geheim, also nicht reinschauen!“
„Schon klar!“, meinte Opa und legte es zurück auf den Tisch. „Hilfst du mir ein bisschen, wenn ich nun auch mit dem Tagebuch schreiben beginne? Ich weiß nämlich gar nicht, wie ich das anstellen soll!“
„Wichtig ist“, sagte Oma, „dass du schön leserlich schreibst, damit du später deine eigene Schrift noch entziffern kannst!“
„Oder du?“, fragte Opa. „Du bist ja ganz schön neugierig!“
„Bin ich gar nicht!“
„Bist du doch!“
Ich schnappte mir mein Tagebuch und verabschiedete mich. „Machts gut ihr beiden, ich komme morgen wieder und wenn du Fragen hast, Opa, du weißt ja, wo du mich findest!“
Am Abend schrieb ich in mein Tagebuch:
Liebes Tagebuch,
meine Großeltern sind ein bisschen verrückt, aber lieb. Heute habe ich es geschafft, Opa dazu zu bringen, dass er nun auch mit dem Schreiben anfangen will. Das finde ich großartig, er hat nämlich immer jede Menge zu erzählen und vielleicht lässt er mich ja mal lesen. Bis morgen, dein Leo.

© Regina Meier zu Verl

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