Traumhaft
Eigentlich wollte ich ihm nach dem Konzert einen Brief schreiben. Ich verwarf den Gedanken dann aber, weil ich nicht sicher sein konnte, dass er ihn auch lesen würde. Vielleicht ginge dieser Brief dann durch viele Hände und wenn er überhaupt bei ihm ankommen sollte, dann wäre es sicherlich einer von vielen. Sinnlos!
Die Brillanz seines Vortrages hatte mich begeistert. Er erreichte mich und mein Herz. Was für ein Geschenk war dieser Mann. Ganz allein stand er dort auf der Bühne, verbeugte sich und nahm dann seine Gitarre, um uns mit dem Reigen seiner Lieder zu erfreuen. So konnte nur ein Mensch singen, der völlig hinter dem stand, was er mitzuteilen hatte. Er sang vom Leben, von der Liebe und der Natur, teils melancholisch, dann wieder fröhlich. Manche Lieder klagten an, immer leise aber bestimmt. Vom Krieg sang er und denen, die nicht zurückgekommen waren.
Ich befand mich in einem Wechselbad der Gefühle, teils freudig erregt, dann wieder traurig. Ich war mir plötzlich meiner eigenen Mittelmäßigkeit bewusst, doch ohne Neid. Ich genoss diese zwei Stunden so sehr. Es war herrlich, dabei zu sein. Ich war Teil des Ganzen und dieser besonderen Stimmung, die sich unter den Zuschauern entwickelte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er nur für mich sang.
Dann hörte ich die ersten Töne meines Lieblingsliedes. Ich schloss die Augen und genoss es einfach. Eine Gänsehaut kroch über meinen Körper und ließ mich erschauern, so viel Gefühl für ein Lied, das ich, wenn ich zu Hause allein war sang. Jeden Ton kannte ich, jeden Akkord, jede Variation – seit vielen Jahren. Plötzlich war ich nicht mehr in dem Saal mit den vielen Menschen. Ich saß auf der Bühne neben ihm und lauschte.
„Schatz, es ist schon spät“, wie durch eine Wolke vernahm ich die Stimme meines Mannes. Ich kniff fest die Augen zu, wollte noch nicht erwachen aus diesem Traum, der immer an dieser Stelle endete. Ich wollte weiterträumen, erfahren, was geschehen würde.
„Ich komme!“, sagte ich und streckte mich. „Ich habe so schön geträumt!“
„Ich habe es gehört!“ Mein Mann lachte und summte eine meiner Traummelodien.
Beim Frühstück legte ich eine CD ein, um den Traum noch ein wenig nachwirken zu lassen. Wir kauten und schwiegen – ja, und wir lächelten, denn seit vielen Jahren war dieser Sänger Gast an unserem Frühstückstisch.
„Der einzige Mann, auf den ich nicht eifersüchtig bin!“, behauptet mein Mann. So richtig glaube ich ihm das nicht.
© Regina Meier zu Verl