Oma Betty meditiert*

Oma Betty meditiert

„Oma, was machst du gerade?“, fragt Mila ihre Großmutter, die im Schneidersitz auf dem Teppich sitzt. Oma Betty öffnet kurz die Augen und lächelt.
„Ich meditiere!“, sagt sie leise.
„Ach so!“, sagt Mila. Sie überlegt eine Weile, dann startet sie einen neuen Versuch.
„Macht das Spaß, Oma, dieses Meditieren?“, fragt sie.
„Es tut gut!“, antwortet Oma. Mila betrachtet Omas Hände, die gefaltet auf ihrem Schoß liegen. Oma atmet ruhig ein und aus. Lustig klingt das Ausatmen, denn da pfeift immer so ein SSSS-Laut mit.
„Oma, warum machst du das?“ Mila hält ihr Ohr nahe an Omas Mund und lauscht.
„Das ist bewusstes Ausatmen, Mila. Versuch es doch auch einmal! Atme durch die Nase ein und dann durch den Mund auf SSS wieder aus!“, schlägt Oma vor.
Mila setzt sich ebenfalls in den Schneidersitz, faltet ihre Hände und atmet bewusst durch die Nase ein und durch den Mund auf SSS wieder aus.
„Ich merke nichts, Oma!“, kichert sie.
„Was solltest du denn merken?“, fragt Oma und öffnet die Augen wieder kurz.
„Na, dass es was mit mir macht. Mir geht’s wie eben, nicht besser und nicht schlechter!“, erklärt Mila.
„Man muss geduldig sein, Mila und regelmäßig üben!“
„Aber ich kann schon ganz lange atmen, Oma, das muss ich doch nicht üben. Jedes Kind kann das!“, meint Mila.
„Es geht nicht nur ums Atmen, es geht darum zur Ruhe zu kommen, den Geist zu erfrischen und auf die innere Stimme zu hören.“ Oma hat eine Engelsgeduld, auch wenn sie sich ein wenig gestört fühlt im Moment. Mila versucht es noch einmal. Fast zwei Minuten lange schafft sie es ganz still zu sein, dann springt sie auf.
„Oma, jetzt hat sie mit mir gesprochen!“, ruft sie fröhlich.
„Wer?“, fragt Oma.
„Die innere Stimme, sie hat geknurrt und gesagt: Mila, du hast Hunger! Was sagte deine Stimme, Oma?“
Oma lauscht, dann lacht sie laut auf.
„Meine innere Stimme sagt: Betty, steh auf und mach dem Kind ein Butterbrot!“
„Meditieren ist toll, Oma!“, sagt Mila und hüpft in die Küche. Morgen wird sie wieder mit Oma meditieren, ganz bestimmt!“

© Regina Meier zu Verl

Johannes und Katharina, ein Johannipaar

Bald ist Johannitag, der 24. Juni. Immer an diesem Tag fällt mir die nachfolgende Geschichte wieder ein, die ich vor vielen Jahren geschrieben habe!

Johannes und Katharina, ein Johannipaar

„Am Johannitag haben wir uns versprochen immer füreinander da zu sein“, sagt Oma.
„Dein Opa war ein toller Mann, alle Mädchen haben sich nach ihm umgeschaut, aber er hatte nur Augen für mich.“ Oma lächelt, als sie daran zurückdenkt. Ich kenne diese Geschichte, aber ich werde nicht müde, sie immer wieder zu hören.
„Erzähl von dem Feuer“, bitte ich sie.
„Aber Kind, das habe ich schon hundert Mal erzählt!“
„Das macht nichts, ich möchte es nochmal hören“, Oma kann meiner Bitte nicht widerstehen und sie beginnt zu erzählen.
„Dein Opa wohnte auf dem Nachbarhof, wir sind uns als Kinder oft begegnet, aber in jedem Jahr, wenn das Johannifeuer auf der großen Dorfwiese entfacht wurde und wir wieder ein Jahr älter geworden waren, wuchs das Gefühl, das wir füreinander hatten. Uns war beiden klar, dass wir einmal ein Paar sein würden. Doch wir waren ja so jung und so schüchtern, dass wir es uns nie gesagt haben.“ Oma steht auf und holt die Zigarrenkiste mit den alten Fotos aus der Vitrine.
„Schau hier, das sitzt er am Feuer und spielt auf seiner Laute. Wie habe ich es geliebt, wenn er sang und spielte. Alle haben ihm wie gebannt zugehört, manchmal haben sie auch mitgesungen. Aber meist lauschten sie deinem Großvater, er war ein begnadeter Sänger. Seine Stimme hatte so etwas – ich kann es gar nicht sagen …“
„Charmantes!“, sage ich, denn schließlich habe ich ihn ja auch singen hören. Auch ich habe es geliebt, ihm zu lauschen und all die alten Lieder, die kenne ich auch, Strophe für Strophe. Es ist kein Zufall, dass ich irgendwann anfing Gitarre zu spielen. Ich weiß noch, wie froh er darüber war. Als er starb, bekam ich seine Laute, sie steht hier neben mir. Sie ist mir so wichtig und wertvoll, irgendwann werde ich sie meiner Tochter vererben.
„Niemand konnte so schön spielen wie er und an dem Tag, als wir geheiratet haben, das war ein paar Tage nach Johanni, da hat er mir ein Liebeslied gesungen, eines, das nur für mich war. Er hat es selbst geschrieben. Wie gern würde ich es noch einmal hören!“
Auf diesen Moment habe ich gewartet, ich nehme meine Gitarre und schlage ein paar Akkorde an, dann beginne ich leise zu singen:

K – für meine Katharina, A – für allzeit meine Frau,
T – für treu, und das für immer, H – für Herz und Himmelblau,
A – für achten und beschenken, R – für Rosen, dunkelrot,
I – für immer an dich denken, N – für Nähe ohne Not,
A – für all das bist du mir und auch für all das bin ich dir.
Meine Katharina, meine Frau!

Oma weint, sie weint vor Freude und sie weint um ihren Mann, der ihr vorausgegangen ist. Es muss schwer sein für sie, aber ich bin sicher, dass sie diesen Moment mit mir genossen hat, trotz der Tränen. Wir haben uns lange umarmt und ich bin so froh, dass ich sie habe, meine Oma. Gebe Gott, dass sie mich noch lange begleiten darf.

© Regina Meier zu Verl

Ich bin nicht allein

Ich bin nicht allein

Dienstag ist Omatag. Einmal in der Woche holt sie mich vom Kindergarten ab und wir unternehmen etwas zusammen. Das finde ich toll. Oma ist auch toll, nur manchmal ist sie etwas streng. Immer dann, wenn ich mal schlechte Laune habe und unbedingt fernsehen will. Das mag Oma nicht. Sie erlaubt es auch nicht. Zuerst bin ich dann beleidigt und heule und quengele herum. Meist, nach ein paar Minuten, geht es dann wieder und ich schleiche mich langsam an Oma heran.

„Sollen wir was spielen?“, frage ich sie. Sofort hat sie Zeit für mich. Manchmal liegen wir einfach auf dem Bauch im Wohnzimmer und spielen mit den Autos. Oma kann tolle Geräusche machen, fast so gut wie ich selbst. Aufheulende Motoren gelingen ihr besonders gut.

Ein anderes Mal geht sie mit mir in die Bibliothek. Ich fühle mich da richtig wohl. So viele tolle Bücher gibt es und ein Kasperltheater. Ich suche die Bücher aus und Oma liest vor. Das macht uns beiden viel Spaß. Ich sehe es an Omas Augen, sie strahlen, wenn sie liest, vor allem seit sie die neue Brille hat und wieder richtig gut gucken kann.

Oma ist schon alt, ungefähr hundert Jahre. Opa auch, aber beide sind noch ganz fit. Sogar Fangen können sie noch mit mir spielen. Meist gewinne ich.  Ist ja auch kein Wunder. Ich habe junge Beine, die laufen schneller, sagt Oma.

Am Sonntag ist Muttertag, da schenke ich Mama ein schönes Bild und Blumen, die Oma für mich pflückt. Das hat sie mir versprochen. Aber Oma ist ja auch eine Mutter, also bekommt sie auch ein Bild und einen dicken fetten Schmatzer. Oma liebt meine Schmatzer, selbst dann, wenn ich Schokolade gegessen habe.  Das sieht dann lustig aus und ich schmatze ihr noch einmal auf die Wange.

Oma hat auch zwei Kinder, meinen Papa und meine Tante Düwi. Die heißt gar nicht Düwi, ich habe sie immer so genannt, als ich noch nicht richtig sprechen konnte. Düwi ist toll und sie bleibt meine Düwi. Aber eine Mutter ist sie noch nicht, sie hat keine Zeit für Kinder, weil sie noch studiert.

Meinen Papa sehe ich nicht so oft, dabei habe ich ihn doch ganz doll lieb. Mama und Papa mögen sich nicht mehr so gern leiden. Ich habe mich daran gewöhnt, weil ich ja noch klein war, als Papa ausgezogen ist. Ich habe ja noch Oma und Opa – und das gleich zwei Mal. Aber das erzähle ich später, jetzt muss ich schlafen.

„Gute Nacht Mama, gute Nacht Omas und Opas, gute Nacht Papa und Tante Düwi!“

© Regina Meier zu Verl

Oma erzählt die schönsten Geschichten

Für eine Geschichte aus dem Leben erzählt ist man wohl nie zu alt, besonders, wenn sie von der Oma vorgelesen wird!

Oma erzählt die schönsten Geschichten

Großmutter schloss das Buch und nahm ihre Lesebrille ab. Dann schaute sie Lukas erwartungsvoll an.
„Na, mein Junge, kanntest du diese Geschichte schon?“
Lukas grinste, wobei die große Lücke zwischen den beiden Schneidezähnen sichtbar wurde.
„Ja, Oma, die kannte ich schon, aber das macht nichts. Du weißt, dass ich all deine Geschichten liebe und sie immer wieder hören kann!“
Wie reizend das aussah, wenn Oma errötete. Lukas liebte diese Frau so sehr, dass ihm das Herz weh tat, wenn er daran dachte, dass sie vielleicht eines Tages nicht mehr da sein könnte. Schnell wischte der den Gedanken weg.
„Wenn ich uns noch einen leckeren Kakao mache, würdest du dich überreden lassen, mir noch eine Geschichte vorzulesen?“
Natürlich ließ sich Oma überreden, viel zu gern las sie ihrem Enkel vor. Im Laufe der Jahre war eine schöne Geschichtensammlung entstanden, die schon vielen Kindern Freude gemacht hatte. Oft war Lukas die Hauptperson, aber immer wieder kamen auch Kinder drin vor, die sich selbst erkannten, weil Lukas’ Oma es irgendwie immer schaffte, eine besondere Eigenart der Kinder herauszustellen, ohne den Namen zu nennen.
„Das Mädchen eben in der Geschichte, das war doch meine Cousine Petra, nicht wahr?“
Lukas kam mit den Kakaobechern aus der Küche.
„Sei vorsichtig, damit du nichts verschüttest“, warnte Oma, dann nickte sie. „Ja, das war die Petra. Was sie heute wohl macht? So lange habe ich nichts von ihr gehört.“
„Es wird ihr schon gut gehen. Wenn man nichts hört, dann ist das doch eher ein gutes Zeichen. Das sagt Mama jedenfalls immer.“
„Ich bin aber trotzdem froh, dass wenigstens du dich immer bei mir meldest und mich regelmäßig besuchst. Sonst wäre ich ganz schön einsam.“
Oma schaute nachdenklich auf ihren Enkel und strich ihm dann sanft über die Wangen. Ehe Lukas etwas dagegen tun konnte, hatte sie kurz auf ihr Taschentuch gespuckt und versuchte nun, Lukas den Kakaorand vom Mund zu wischen.
Lukas ließ es geschehen, musste aber schon wieder grinsen. Er fragte sich, ob Oma ihm im nächsten Jahr, wenn er seinen Fünfzigsten gefeiert hatte, noch immer die Schnute abwischen würde.
„Es war einmal ein Junge, der hieß Lukas …“, begann Oma zu lesen. Lukas setzte sich auf den Fußboden zu ihren Füßen und legte den Kopf auf ihren Schoß.

© Regina Meier zu Verl

Ein märchenhafter Geburtstag

Ein märchenhafter Geburtstag

Eigentlich mochte Jonas es nicht, mit den Erwachsenen in ein Restaurant zu gehen. Es war ihm viel zu langweilig und benehmen musste man sich auch noch. Er fand das ätzend.
Trotzdem machte er eine Ausnahme für den Geburtstag seiner Oma.
„Okay!“, sagte er deshalb, als sein Mutter ihn fragte, ob er denn mitkomme. „Für Oma tu ich fast alles!“
Am Samstagabend machten sich also alle fein für das große Fest. Selbst Jonas ließ sich überreden eine Stoffhose zu tragen und ein Oberhemd. Das war nicht so ganz sein Fall, aber was tat man nicht alles aus Liebe.
Omas Augen strahlten, als sie ihn erblickte.
„Komm her, Jonas, du sitzt links neben mir und der Opa rechts. Dann habe ich meine beiden Männer an meiner Seite!“, rief sie ihnen zu und dirigierte alle auf ihre Plätze.
Neben Jonas nahmen seine Eltern Platz und auf der anderen Seite, neben Opa, sollten Tante Betty und ihr Liebster sitzen. Betty war Papas Schwester. Jonas bewunderte sie heimlich ein wenig, denn sie war nicht so wie die anderen Verwandten. Papa meinte sogar, dass sie ein wenig verrückt sei und wenn sie so weitermache, dann würde ihr der neue Freund auch wieder weglaufen. Sie hatte schon einige vergrault mit ihren Ticks.
Gerade studierte sie die Speisekarte und kicherte. Das Kichern ging in ein lautes Lachen über und schließlich konnte sie sich nicht mehr halten und grölte los.
„Jonas, hast du das gelesen?“, rief sie. „Es gibt Rapunzelsalat! Ist Rapunzel nicht diese krasse Braut, die ihren Lover an den Haaren in ihren Turm klettern ließ? Die war voll cool, das hätten wir mal machen sollen!“
„Betty, red doch nicht so einen Unfug. Rapunzelsalat ist ein Blattsalat, der sehr lecker schmeckt.“
„Stimmt, Mama, aber es ist auch ein Märchen. Du hast es uns oft genug vorgelesen, weißt du noch?“
Oma nickte. Sie mochte Märchen ganz besonders gern und fand es gar nicht schön, wenn man sie sprachlich so verhunzte. Ihre Liebe zu den alten Geschichten zeigte sich ein weiteres Mal auf der Speisekarte, beim Dessert. ‚Rot wie Blut, Weiß wie Schnee und Schwarz wie Ebenholz – Schneewittchenkuchen’, stand da. Jonas lief das Wasser im Mund zusammen.
„Sogar die Tischdekoration ist märchenhaft“, scherzte Tante Betty. „Dornröschen!“
Dass es für die Erwachsenen nach dem Essen ein Zauberwasser und für Jonas einen giftgrünen Krötenblutsaft gab, rundete das märchenhafte Menu ab.
Der Höhepunkt des Festes war allerdings dann die Geschenkübergabe von Tante Betty. Nach dem Essen hatte sie sich zunächst aus dem Staub gemacht. Als sie zurück in den Saal kam, war sie verkleidet als Troll. Sie trug eine braune Hose, die bis zu den Knien hochgekrempelt war, dazu ein Holzfällerhemd, das riesige Löcher aufwies und mal eine Wäsche nötig gehabt hätte. Ihre Haare hatte sie verstrubbelt und im Gesicht prangte eine dicke, rote Gumminase. Sie trug einen Blecheimer bei sich, den sie neben sich auf den Boden stellte. Dann tanzte sie singend um diesen Eimer herum, bevor sie sich drauf setzte und verklingen ließ:
„Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich goldne Eier …lege!“, sang sie. Dann stand sie auf und holte viele goldne Eier aus dem Eimer, die sie Oma auf den Tisch legte.
„Bitteschön, liebe Mama!“, sagte sie lachend und wartete darauf, dass das Geburtstagskind die Eier genauer anschaute.
„Ach Gottchen, das sind ja Märcheneier“, rief Oma fröhlich und wickelte die Goldfolie eines der Eier ab. Zum Vorschein kam eine kleine gelbe Kapsel, die man wiederum öffnen konnte. Darin fand sich ein Zettel: „Ich wünsche dir Gesundheit!“, stand auf dem ersten und dann kamen nach und nach viele gute Wünsche zusammen und ganz zum Schluss zog Tante Betty noch ein weiteres Ei aus ihrer Hosentasche.
„Das hätte ich doch fast vergessen!“, lachte sie und übergab es Oma.
Auf dem Zettel stand: „Die Eintrittskarten für das diesjährige Weihnachtsmärchen im Stadttheater mit der ganzen Familie kannst du, liebe Mama, bei mir abholen. Sie liegen in einer Schatzkiste und warten darauf, von dir gefunden zu werden. Deine Betty“

Jonas’ Oma war sehr glücklich an diesem Tag, ihrem 75. Geburtstag. Als sie abends im Bett lag, nahm sie Opas Hand und sagte: „Haben wir nicht voll krasse, tolle Kinder?“
„Megacool!“, murmelte Opa, der schon fast ins Traumreich geglitten war. „Megacool!“

© Regina Meier zu Verl

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Bildquelle Efraimstochter/pixabay

 

Oma Betty meditiert

Oma Betty meditiert

„Oma, was machst du gerade?“, fragt Mila ihre Großmutter, die im Schneidersitz auf dem Teppich sitzt. Oma Betty öffnet kurz die Augen und lächelt.
„Ich meditiere!“, sagt sie leise.
„Ach so!“, sagt Mila. Sie überlegt eine Weile, dann startet sie einen neuen Versuch.
„Macht das Spaß, Oma, dieses Meditieren?“, fragt sie.
„Es tut gut!“, antwortet Oma. Mila betrachtet Omas Hände, die gefaltet auf ihrem Schoß liegen. Oma atmet ruhig ein und aus. Lustig klingt das Ausatmen, denn da pfeift immer so ein SSSS-Laut mit.
„Oma, warum machst du das?“ Mila hält ihr Ohr nahe an Omas Mund und lauscht.
„Das ist bewusstes Ausatmen, Mila. Versuch es doch auch einmal! Atme durch die Nase ein und dann durch den Mund auf SSS wieder aus!“, schlägt Oma vor.
Mila setzt sich ebenfalls in den Schneidersitz, faltet ihre Hände und atmet bewusst durch die Nase ein und durch den Mund auf SSS wieder aus.
„Ich merke nichts, Oma!“, kichert sie.
„Was solltest du denn merken?“, fragt Oma und öffnet die Augen wieder kurz.
„Na, dass es was mit mir macht. Mir geht’s wie eben, nicht besser und nicht schlechter!“, erklärt Mila.
„Man muss geduldig sein, Mila und regelmäßig üben!“
„Aber ich kann schon ganz lange atmen, Oma, das muss ich doch nicht üben. Jedes Kind kann das!“, meint Mila.
„Es geht nicht nur ums Atmen, es geht darum zur Ruhe zu kommen, den Geist zu erfrischen und auf die innere Stimme zu hören.“ Oma hat eine Engelsgeduld, auch wenn sie sich ein wenig gestört fühlt im Moment. Mila versucht es noch einmal. Fast zwei Minuten lange schafft sie es ganz still zu sein, dann springt sie auf.
„Oma, jetzt hat sie mit mir gesprochen!“, ruft sie fröhlich.
„Wer?“, fragt Oma.
„Die innere Stimme, sie hat geknurrt und gesagt: Mila, du hast Hunger! Was sagte deine Stimme, Oma?“
Oma lauscht, dann lacht sie laut auf.
„Meine innere Stimme sagt: Betty, steh auf und mach dem Kind ein Butterbrot!“
„Meditieren ist toll, Oma!“, sagt Mila und hüpft in die Küche. Morgen wird sie wieder mit Oma meditieren, ganz bestimmt!“

© Regina Meier zu Verl

Elina und die rosafarbenen Stulpen

Elina und die rosafarbenen Stulpen (unter dem Text auch zum Anhören)

„Oma, was machst du denn da?“
„Ich ruhe mich aus, Elina!“ Oma Betty sitzt in ihrem Fernsehsessel und hat die Beine hochgelegt.
„Könntest du mir einen Gefallen tun, während du dich ausruhst?“, fragt Elina mit zuckersüßer Stimme.
„Das kommt darauf an“, sagt Oma.
„Worauf kommt es an?“, will Elina wissen.
„Also, wenn ich mich weiter dabei ausruhen kann und die Beine liegen bleiben dürfen, dann könnte ich dir einen Gefallen tun. Worum geht es denn?“
„Ich gehe doch jetzt immer zum Ballettunterricht. Die anderen Mädchen dort haben Stulpen über der Strumpfhose. Das gefällt mir gut. Ich möchte auch welche haben.“ Elina zeigt ihrer Oma, von wo bis wo die Stulpen gehen und erklärt dann, dass diese langen Socken ohne Fuß den Sinn haben, die Waden schön warm zu halten.
„Weißt du Oma, man kann sich leicht verletzen, wenn die Muskeln kalt sind!“
„Ich verstehe!“, sagt Oma. „Und nun möchtest du, dass ich dir ein Paar Stulpen stricke, stimmt’s?“
Elina strahlt. Sie wusste, dass Oma ein offenes Ohr für sie hatte und schnell ihren Wunsch erraten würde.
„Genau, rosa sollen sie sein. Genauso rosa wie mein Ballettkleid!“
„Dann müssen wir Wolle besorgen und ich muss doch meinen Sessel verlassen. Außerdem wird es gleich schon dunkel und wir schaffen es nicht mehr im Hellen zurück!“
„Mama könnte uns fahren, oder wir nehmen eine Taschenlampe mit“, schlägt Elina vor. Dann fällt ihr ein, dass Mama ja gar nicht zu Hause ist und Papa kommt erst spät, da er heute noch in die Stadt fahren wollte nach Feierabend.
„Mmh“, macht Oma. „Mmh“, macht auch Elina. Dann schwingt Oma die Beine vom Sessel und steht auf. Sie strickt ja viel zu gerne und möchte am liebsten heute noch beginnen mit den rosa Stulpen.
„Also gut, dann mal los, junge Dame!“
„Oma, du bist die Beste!“
Schnell packen sich die beiden warm ein und schreiben einen Zettel auf dem steht: Wir sind im Wollgeschäft, Stulpenwolle kaufen!
Oma nimmt vorsichtshalber noch das Handy mit, dann geht es los.
Nach einer Viertelstunde erreichen sie die Einkaufsstraße, an der auch Frau Wortmanns Wollgeschäft zu finden ist.
„Schau, Oma, das ist die richtige Farbe!“ Elina hat schnell ihre Wunschwolle gefunden. Oma kauft noch zwei Knäuel Sockenwolle zusätzlich und schon machen sie sich wieder auf den Heimweg. Als sie das Geschäft verlassen, ist es tatsächlich schon fast dunkel. Natürlich haben sie die Taschenlampe vergessen. Elina ist ein wenig mulmig zumute.
Auch Oma gefällt das gar nicht, denn ein Stück des Weges ist eine Landstraße ohne Bürgersteig. Da wird man schlecht gesehen und es ist ganz schön gefährlich. Erst im letzten Jahr ist ein Kind dort angefahren worden.
„Wir gehen ins Café und trinken einen heißen Kakao und dann rufen wir Mama an, dass sie uns später hier abholen kommt!“, schlägt Oma vor. Das findet Elina toll, denn sie bibbert schon jetzt vor Kälte. Ein schlechtes Gewissen hat sie auch, weil sie Oma ja überredet hat. Mama wird das gar nicht gefallen.
„Ich werde Mama sagen, dass ich mich verplaudert habe bei Frau Wortmann. Dann schimpft sie nicht!“, sagt Oma, die genau gemerkt hat, dass ihre Enkelin immer stiller wird.
„Guck, nun strahlst du wieder. Das ist super, denn das passt so gut zu dir wie dein Name?“
Elina weiß, dass Elina „Die Strahlende“ bedeutet. Das hat Mama ihr erklärt und seitdem gefällt ihr der eigene Name noch viel besser.
„Du strahlst wie ein Stern am sternenklaren Himmel, meine Kleine!“, schwärmt Oma, aber jetzt wird es Elina dann doch zu viel.
„Jetzt isses aber gut, Oma! Meinst du, ich könnte zum Kakao noch ein Stückchen Kuchen bekommen?“

© Regina Meier zu Verl

Hier lese ich dir die Geschichte vor:

Elina und die rosafarbenen Stulpen

Lena hat Kummer

Lena hat Kummer

„Es gibt immer einen Weg, mein Kind. Manchmal ist er steinig, aber wenn man ihn überwunden hat, dann geht es wieder leichter voran.“
Die Großmutter nahm die Hände des Mädchens und barg sie in ihren.
„Ich weiß, Oma. Du hast es mir schon öfter gesagt und es stimmt ja auch. Im Moment fühlt es sich aber gerade so an, als ginge die Welt unter.“ Dicke Tränen liefen über das Gesicht des Kindes. Unaufhörlich tropfen sie auf den Schoß der Großmutter.
„Es hilft dir nicht, wenn ich dir sage, wie schwer ich es hatte, als ich in deinem Alter war, Vielleicht möchtest du es trotzdem hören?“
Lena nickte. Ihr war jede Ablenkung vom eigenen Kummer recht und wenn ihre Großmutter erzählte, dann konnte sie für eine Weile die Welt um sich herum vergessen.
„Ich war ungefähr in deinem Alter als meine Mutter krank wurde. Mit zehn Jahren einen Haushalt zu führen, das war nicht einfach. Schließlich hatte ich fünf ältere Brüder und die waren, wenn sie nicht in der Schule oder bei der Arbeit waren, auf dem Hof beschäftigt.“
„Ich könnte das nicht, Mama helfen kann ich, aber alles allein machen, das schaffe ich sicher nicht“, Lena hatte noch nie darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn die Mutter nicht da wäre.
„Wir hatten keinen Geschirrspüler, keine Waschmaschine oder Trockner, auch keinen elektrischen Backofen, von einer Heizung ganz zu schweigen. Meine Mutter war zu Hause, aber sie wurde immer schwächer. Als sie starb, war es für sie eine Erlösung. Wir waren alle sehr traurig und haben kaum gesprochen in dieser Zeit. Jeder hatte seine Aufgabe und als ich vierzehn war, da konnte ich schon für alle kochen und sogar die Früchte aus dem Garten einmachen.“
„Einmachen?“, fragte Lena nach, sie hatte dieses Wort noch nicht gehört.
„Ja, die Kirschen, die Erdbeeren und Pflaumen wurden geputzt, entsteint und dann in Zuckerwasser im großen Einmachtopf in Gläser eingekocht. Während des Kochens saugten sie die Deckel durch die Gummiringe am Glas fest und alles blieb lange haltbar. Wir verstauten die Gläser mit den Früchten, aber auch mit Bohnen und Erbsen in den Kellerregalen. So hatten wir auch für den Winter etwas zu essen. Weißt du, wir haben Glück gehabt. Wir haben zwar unsere Mutter verloren, doch unser Hof wurde von den Bomben verschont. Anderen ging es schlechter als uns. Bis …“ Die Augen der Großmutter richteten sich ins Weite. Sie schwieg still und Lena blieb ebenfalls ganz still. Sie streichelte die Hände der Oma und legte den Kopf auf ihre Schulter.
„Du musst nicht weitererzählen, wenn es schwerfällt“, sagte sie.
„Das möchte ich aber, es ist alles so lange her. Trotzdem schmerzt es noch immer. Meine Brüder, Karl und Friedrich kamen nicht aus dem Krieg nach Hause. Lange wussten wir nicht, was mit ihnen geschehen war. Aber mein Vater hatte es wohl geahnt. Eines Tages bekamen wir Nachricht, dass beide im Dienste für ihr Vaterland gefallen waren.“
„Gefallen?“, fragte Lena.
„Ja, so heißt es, wenn jemand im Krieg stirbt. Meine beiden ältesten Brüder waren nun auch tot. Die anderen drei, Werner, Wilhelm und Heinz waren noch zu jung, um in den Krieg zu ziehen. Gott sei Dank!“
Lena schämte sich ein bisschen, dass sie die Oma mit ihrem „kleinen“ Kummer belastet hatte. Was war schon ein dicker Streit mit Kathi gegen das, was ihre Oma erlebt hatte. Aber es tat eben auch weh, wenn die beste Freundin einen verraten hatte. Sollte sie doch mit ihrer neuen Freundin glücklich werden, die ja so viel lustiger war als sie, Lena. Das hatte Kathi jedenfalls behauptet.
„Wir haben es trotzdem manchmal schön gehabt zu Hause. Mein Vater hat getan was er konnte. Meine Brüder haben alle eine Ausbildung bekommen. Werner hat später den Hof übernommen und ich habe den Fritz geheiratet. Ich war sehr glücklich mit ihm. Wir bekamen deinen Vater, der uns viel Freude gemacht hat. Heute denke ich manchmal, wie schön es gewesen wäre, wenn ich auch etwas gelernt hätte.“
„Aber Oma, du kannst doch alles. Du bist eine faszinierende Frau, das hat meine Lehrerin gesagt, als du neulich den Kuchen für das Klassenfest gebacken hattest. Sie war so begeistert von dir, dass ich fast ein wenig eifersüchtig war.“
Oma lachte. Sie drückte Lena noch einen Kuss auf die Stirn und erhob sich aus dem Sessel.
„Meine müden Knochen brauchen noch etwas Bewegung. Machst du noch einen kleinen Spaziergang mit mir?“, bat sie und diesen Wunsch schlug Lena ihr nicht ab.
„Weißt du was, Oma?“, fragte sie, als sie durch den Gemüsegarten gingen und die Fortschritte der Pflanzen begutachteten.
„Du bist die beste Freundin, die sich ein Mensch wünschen kann!“
Oma wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel und beugte sich übers Beet. Sie pflückte eine dicke Erdbeere und wischte sie mit ihrem blütenweißen Taschentuch sauber.
„Die ist für dich, beste Freundin von allen!“, lachte sie.

© Regina Meier zu Verl

 

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Hanna malt ihre Gedanken

Hanna malt ihre Gedanken

Hanna schleicht seit Minuten um mich herum. Stören will sie nicht, aber einfach nur dasitzen und warten, das will sie auch nicht. Amüsiert betrachte ich das Treiben aus dem Augenwinkel, auf meinen Text kann ich mich sowieso nicht mehr konzentrieren. Aber das ärgert mich nicht, das Leben ist hier und jetzt, schreiben kann ich später noch.

„Na, Hanna, ist dein Bild schon fertig gemalt?“, frage ich deshalb, um das Kind zu erlösen. Ihre Augen beginnen zu leuchten, „Endlich“ kann ich darin lesen und freue mich gleich mit.
„Ja, schau mal, ich habe eine Geschichte gemalt und bin sehr gespannt, ob du erkennst, welche es ist!“

Ich betrachte das Bild, das wundervoll bunt ist und viele Details zeigt, die in Ruhe betrachtet werden wollen. Hanna platzt vor Ungeduld, als ich schaue und schaue.
„Na, hast du’s?“
Ich schüttle den Kopf. ‚Manchmal darf auch eine Oma schummeln‘, denke ich und kann das Lachen kaum noch unterdrücken.

„Dieser Frosch hier kommt mir bekannt vor“, sage ich und mache eine Pause, bevor ich mich über das fantasievolle Kleid des weiblichen Wesens auslasse, das dort auf einem Brunnenrand sitzt und weint.
„Jetzt müsstest du aber wissen, welche Geschichte das ist!“, schimpft Hanna empört.
„Weiß ich auch, es ist das Märchen vom Froschkönig!“
Hanna strahlt.
„Du bist die weltbeste Erkennerin!“, lobt sie mich und zieht das nächste Bild hinter ihrem Rücken hervor.

Jetzt wird es schwieriger. Eine alte Frau sitzt in einem Sessel, neben ihr hockt eine Katze auf der Sessellehne. Die Frau hat ein Buch auf dem Schoß, sie liest aber nicht, denn ihre Augen sind geschlossen. An der Wand hängt ein Bild, auf dem ein Hund zu erkennen ist, ein Dackel.
„Hilf mir, Hanna, gib mir einen Tipp“, bitte ich.
„Schau hin“, sagt Hanna und kichert, „du wirst erkennen, welche Geschichte auf dem Bild ist.“
Neben dem Sessel steht ein Korb mit Wolle, aus dem ein halbfertiger Socken heraushängt. Der kommt mir bekannt vor.
„Das ist ja mein Wollkorb!“, rufe ich und freue mich, dass ich der Sache nun auf die Spur komme.
Hanna grinst.
„Dann bin ich wohl die Frau im Sessel, oder?“
Hanna schüttelt energisch den Kopf.
„Nein, das kannst du doch nicht sein, du bist doch allergisch gegen Katzen.“
Das stimmt, ich bin also auf der falschen Fährte. Seltsam ist ja auch, dass die Frau rote Turnschuhe mit neongrünen Bändern trägt.

„Hey, solche Schuhe hast du doch, Hanna, oder?“
„Ja, hier schau, ich habe sie ja an!“
„Die sind aber der Frau auf dem Bild zu klein“, behaupte ich. Hanna überlegt bevor sie antwortet:
„Sie hat sich neue gekauft, in größer.“
„Ach so, dann könnte es ja sein, dass du diese Frau bist, nicht wahr?“
„Stimmt“ Hanna lacht und klatscht übermütig in die Hände.
„Jetzt rate weiter, was ist da los auf dem Bild? Guck doch mal das Buch an, das ich da auf dem Schoß habe“, rät sie.

Auf einmal weiß ich es, das ist das Buch, das ich für Hanna geschrieben habe. Alle Geschichten sind drin, die ich für sie erdacht habe und sie hat es von mir zur Einschulung bekommen. Aber warum ist Hanna so alt auf dem Gemälde und wo bin ich?
Hanna errät wohl meine Gedanken, denn sie fängt an zu erzählen:
„Pass auf! Wir haben heute in der Schule für Lisas Mama gebetet. Du weißt doch, dass sie sehr krank ist und Lisa war heute nicht da und Frau Kruse hat uns gesagt, dass ihre Mama gestorben ist. Alle waren ganz traurig und es tut mir so leid für Lisa, denn nun ist sie allein mit ihrem Papa und eine Oma hat sie auch nicht. Und da musste ich daran denken, dass dir oder Mama auch mal was passieren könnte und dann habe ich auch geweint. Da hat Frau Kruse gesagt, dass von jedem Menschen etwas bleibt, etwas, das uns an ihn erinnert und so bleibt dann dieser Mensch immer im Herzen, auch wenn er mal nicht mehr auf der Welt ist.“

Hanna hat ganz leise erzählt und mir fehlen gerade die Worte, so ergriffen bin ich von ihren Gedanken, denn ich erkenne plötzlich, was sie mir mit dem Bild sagen will.

„Du wirst immer bei mir sein, Oma. Wenn ich mal alt bin, dann setze ich mich in einen Sessel und nehme dein Buch und dann denke ich an dich, oder ich denke mir auch Geschichten aus und schreibe sie in ein Buch und die Katze wird mir dabei zuschauen, denn dann darf ich ja eine Katze haben, weil, wenn du ein Engel bist, dann bist du sicher nicht mehr allergisch, oder?“
„Nein, Hanna, Engel haben sicher keine Allergien!“

Ich setze mich in meinen Sessel und Hanna krabbelt auf meinen Schoß. Ich genieße diesen innigen Moment mit ihr und ihr Bild werde ich in einem schönen Rahmen über mein Bett hängen.

© Regina Meier zu Verl

HIER auch als Hörbuch im Magazin CARL

Rosen alt

Omas Kartoffelsalat

Omas Kartoffelsalat

Wenn bei uns zu Hause gefeiert wurde, dann bereitete meine Oma immer eine Riesenportion Kartoffelsalat zu. Keiner konnte das so gut wie sie. Alle hatten es schon versucht, Mama, Tante Tina, sogar Onkel Jörg, ihre Salate kamen nicht annähernd an den herrlichen Kartoffelsalat meiner Oma heran. Das Rezept rückte sie aber nicht raus und wenn mal einer versuchte, sie auszuspionieren, dann hat sie es stets gemerkt und den Spion aus ihrer Küche verwiesen. Oma wurde bei solchen Verfehlungen zum Feldwebel. „Verschwindet aus meiner Küche, aber zackig!“, rief sie dann und niemand widersetzte sich, schon weil alle fürchteten, dass sie dann keinen Salat mehr machen würde. Das wollte keiner von uns.
Oma war gesundheitlich recht fit, aber sie sah nicht mehr so gut. Sie besaß zwar eine Brille, aber die war ihr beim Kochen lästig.
„Immer beschlägt das blöde Ding!“, behauptete sie und setzte sie nur auf, wenn sie die Zeitung las, oder das Haus verließ. Und natürlich sonntags, wenn sie in die Kirche ging, wo sie mit Inbrunst alle Lieder mitsang. Oma war textsicher, jedenfalls in den ersten drei Strophen, für die restlichen brauchte sie die Brille.
An einem Sonntag im Herbst war ich mal wieder mit Oma in der Kirche. Wir saßen immer ganz hinten, weil Oma dann besser sehen konnte, wer so alles in die Kirche kam. So ein Gottesdienst war ja ein gesellschaftliches Ereignis und da musste sie doch sehen, wer daran teilnahm. Leise kommentierte sie, damit ich auch was davon hatte.
„Guck, das ist Försters Grete, die kennst du doch, ne?“, sagte sie zum Beispiel. Wenn ich das verneinte, dann lieferte sie der Erklärung nach: „Die ist doch eine geborene Schlüter, von Schlüters, die hinten bei den Fichten wohnen! Die hat dann den Förster geheiratet, den wollte sonst keine!“ oder „Nun guck dir die alte Meiersche an, den Hut hat sie doch schon dreißig Jahre, ist der nicht unglaublich hässlich?“
Ich musste mir oft das Lachen verkneifen, das kann man sich sicher vorstellen. Öde waren die Besuche mit Oma in der Kirche auf keinen Fall, sie wusste über jeden etwas zu berichten und ich hörte brav zu.
Manchmal buffte sie mich in die Seite, dann musste ich genau hinschauen, wer da gerade an uns vorbei durch den Mittelgang marschierte. Die meisten Leute aus unserem Dorf kenne ich ja auch, aber es war auch immer mal einer dabei, den ich noch nie gesehen hatte. Also verkniff ich mir „Aua“ zu rufen und schaute genau hin.
„Das ist der Tonius, der war in meiner Klasse!“, sagte sie einmal.
„Wenn du mir versprichst, es keinem Menschen weiterzusagen, dann verrate ich dir was!“
Ich hob drei Finger zum Schwur und war gespannt. „Du darfst es aber wirklich nicht sagen, vor allem dem Opa nicht, der wird verrückt, wenn er das hört!“
Ich schüttelte heftig den Kopf. „Du kannst dich drauf verlassen, heiliges Ehrenwort!“, sagte ich, weil ich das, besonders in der Kirche, für angemessen hielt.
„Der war mal ein glühender Verehrer von mir und beinahe …“ Jetzt wurde es spannend.
„Ja?“, flüsterte ich aufgeregt.
„Beinahe hätte ich den geküsst!“ Oma errötete ein kleines bisschen. Verschämt sah sie sich um.
„Das hat doch wohl keiner gehört, oder?“, wollte sie von mir wissen.
„Nee, bestimmt nicht, ich habe es selbst kaum hören können!“, beruhigte ich sie. Vor lauter unterdrücktem Lachen hatte ich einen Schluckauf bekommen. Die Leute schauten schon auf mich und das war Oma natürlich sehr unangenehm, wo sie mir doch gerade so ein geheimes Geheimnis anvertraut hatte.
Als der Gottesdienst zu Ende war, hatte sie es dann plötzlich sehr eilig nach Hause zu kommen. Sie wartete nicht einmal mehr den Segen ab und zog mich zum Ausgang. Und wie das so ist, wenn man nicht mehr so gut sieht und die Brille in der Handtasche ruht und man es zudem noch eilig hat, man wird unvorsichtig und es passierte, was passieren musste. Oma übersah die letzte Treppenstufe vor dem Kirchenportal und stürzte.
Ich versuchte ihr aufzuhelfen, aber das war nicht möglich. Schmerzverzerrt fluchte Oma: „Heiliges Kanonenrohr! Der Kartoffelsalat!“ Ungläubig sah ich sie an. Was hatte denn der Kartoffelsalat damit zu tun?
„Da ist bestimmt was gebrochen!“, heulte sie. „Und ich habe den Kartoffelsalat noch nicht fertig, heute Abend kommen doch Tina und Jörg zum Essen!“
„Also Oma, wenn du keine anderen Sorgen hast!“, schimpfte ich. Die anderen Gottesdienstbesucher kamen nun auch aus der Kirche und sahen die Bescherung. Hilfe nahte in Form von Tonius, dem glühenden Verehrer.
„Nicht bewegen!“, rief er besorgt. „Ich rufe einen Krankenwagen!“ Er zückte sein Handy und wählte den Notruf an.
Eine Viertelstunde später saßen Oma und ich im Krankenwagen. Besser gesagt: Oma lag und ich saß daneben. Im Krankenhaus wurde der Fuß geröntgt. Glücklicherweise war nichts gebrochen, nur der Knöchel war verstaucht und Papa konnte uns aus dem Krankenhaus wieder abholen. Oma saß dann in der Küche, Papa bettete ihren Fuß auf einen Hocker und dann mussten alle die Küche verlassen. Nur ich durfte bleiben und unter Omas Anleitung den Kartoffelsalat fertigstellen.
Ja, so war das!
Nun tut mir bitte einen Gefallen und erzählt die Sache mit dem Verehrer nicht weiter, ich habe es Oma versprochen!

© Regina Meier zu Verl

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