Von Engeln und Bratäpfeln – Eine Kindheitserinnerung

Weihnachtsfeier auf der Donnerburg (1960)

„Wenn du dein Brot nicht aufisst, nehmen wir dich heute Abend nicht mit auf die Donnerburg!“
Ich wusste, dass meine Oma das genauso gemeint hatte, wie sie es sagte und würgte die kleinen Häppchen mit Sülze hinunter. Dabei musste ich gut aufpassen, dass das, was ich schluckte auch unten blieb. Ich ekelte mich so sehr und bekam Gänsehaut und Schweißausbrüche.
Irgendwie schaffte ich es aber dann doch, das verhasste Butterbrot zu entsorgen, denn jedes Mal, wenn Oma sich umdrehte, warf ich ein Bröckchen aus dem Fenster, das auf Kippe stand. Die Vögel werden ihre Freude daran gehabt haben, denn es war Winter und es lag eine dichte Schneedecke. Auf der Donnerburg sollte am Abend einen Weihnachtsfeier stattfinden. Ich wollte so gern mitgehen.
Am späten Nachmittag wurde ich dann chic gemacht, ich trug ein kariertes Flanellkleidchen und eine weiße Wollstrumpfhose. Das Kleid in Rottönen hatte ebenfalls einen schneeweißen Kragen. Braune Lederschuhe mit Schnüren passten nicht so recht dazu, aber wir hatten einen weiten Weg vor uns und das Schuhwerk musste warm und bequem sein.
Mein Opa war auch schon fix und fertig, nur Oma musste noch ins Bad und so warteten mein Großvater und ich in seinem kleinen Treibhaus, in dem es im Winter ganz besonders gemütlich war. Die Scheiben waren beschlagen und im Bollerofen lagen zwei Bratäpfel, die einen wunderbaren Duft verströmten und mit gutem Appetit von mir verzehrt wurden.
Dann sangen wir das Lied vom kleinen Apfel, mein Opa begleitete mich auf seiner Laute und ich sang alle Strophen, ich war fünf Jahre alt und Opa sagte immer, dass ich singe wie eine Nachtigall.
Mit dem Stadtbus fuhren wir ein Stück und dann ging es zu Fuß weiter bis zu dem Restaurant, das mitten im Wald lag. Schon von weitem konnten wir die festliche Beleuchtung sehen.
Um große runde Tische hatten sich Sänger und Sängerinnen des Kirchenchores versammelt, ich schüttelte viele Hände und jedes Mal, wenn mein Opa mich vorstellte, sagte er stolz: „Das ist Regina, mein Enkelkind!“
Irgendwann klopfte er dann an sein Weinglas und es wurde ganz still im Raum.
„Meine Enkeltochter wird euch etwas vorsingen“, sagte Opa und hob mich mit einem Satz mitten auf den Tisch.
Er nahm seine Laute und spielte, ich begann zu singen und es machte mir gar nichts aus, dass so viele Leute zuhörten.
Ich bekam viel Lob. Das war mein erster öffentlicher Auftritt, der in guter Erinnerung bei mir blieb. Denn es geschah noch etwas, das ich ebenfalls niemals vergessen werde.
Eine Cousine meiner Mutter, Karin, war auch Gast. Sie freute sich so sehr über mich, dass sie mir etwas Schönes zeigen wollte. Sie nahm mich an der Hand und ging mit mir in den Keller, wo eine Schar von Engeln auf ihren Auftritt wartete. Sie waren wunderschön und ihre Kleider glitzerten. Auf dem Kopf trugen sie goldene Reifen. Ich konnte mich gar nicht satt sehen, denn ich war davon überzeugt, dass es echte Engel waren. Ich stolperte auf der Treppe, weil ich vor lauter Ehrfurcht nicht auf die Stufen achten konnte. Ein Engel sprach mich an, doch ich verstand ihn nicht. Wahrscheinlich sprach er „englisch“.

© Regina Meier zu Verl

Gina will Brot backen

Gina will Brot backen

Wenn meine Mutter traurig war, dann backte sie Brot. So oft habe ich ihr dabei zugesehen. Jeden Handgriff kannte ich. Deshalb war ich davon überzeugt, dass ich, obwohl ich ja noch ein Kind war, es selbst genauso gut könnte wie Mama.
Eines Tages waren meine Eltern zu einer Feier am Abend eingeladen. Wir Kinder blieben zu Hause und da ich die Große war, sagte mein Vater: „Gina, du passt schön auf die Kleinen auf und wenn irgendetwas sein sollte, dann rufst du Tante Guste. Sie weiß, dass wir unterwegs sind.“
Tante Guste wohnte auf der gleichen Etage. Wir Kinder liebten sie wie eine Oma. Ein Telefon hatten wir noch nicht, aber wenn man ganz laut rief, konnte Tante Guste das hören und sie kam sofort, um nach uns zu schauen.
Ich fand es gut, dass meine Eltern mir zutrauten, auf die Geschwister aufzupassen. Beide schliefen schon und ich lag im Bett und las in meinem neuen Buch. ‚Goldlöckchens erste Reise‘ hieß es und war in Schreibschrift geschrieben. Spannend war das, denn Goldlöckchen war etwa so alt wie ich und sie reiste ganz allein durch die Welt.
Ich hatte schon eine Weile gelesen und war noch gar nicht müde. So kam es, dass ich mich der letzten Seite näherte und als der allerletzte Satz gelesen war, wurde ich so traurig, dass mir die Tränen kamen.
Ich weinte also still vor mich hin und dann fiel mir ein, dass ich ein Brot backen sollte, so wie Mama es tat, wenn sie traurig war. Das half ganz bestimmt.
Ich fand alles, was ich dazu brauchte in der Küche, Hefe und Milch im Kühlschrank, das Mehl in der großen Porzellandose, wo auch MEHL drauf stand. Salz brauchte ich noch und etwas Butter. Alle Zutaten stellte ich auf den Tisch und schob einen Stuhl davor, denn ich war noch zu klein, um einfach so vor dem Tisch zu stehen.
Ich schüttete das Mehl auf das Backbrett, bohrte eine Mulde hinein und gab die Hefe und etwas Milch in die Vertiefung.
‚Jetzt muss ich den Teig kneten‘, dachte ich. so schwierig hatte ich mir das aber nicht vorgestellt. Alles war staubig und trocken. Wahrscheinlich fehlte etwas Milch. Schnell noch einen guten Schluck dazu, so würde es schon gehen. Doch das half so gar nicht. Es wurde zwar etwas matschiger, aber nichts von diesem pampigen Zeug erinnerte an den wunderbaren Hefeteig von Mama. Ich wurde immer trauriger, zwischendurch auch mal etwas wütend und schließlich gab ich auf.
Gerade wollte ich vom Stuhl klettern, als ich ein merkwürdiges Geräusch hörte. Ich war sicher, dass da jemand in der Wohnung war. Ich wagte nicht zu atmen und hielt mir vor Angst die Augen zu. Die Geräusche wurden lauter und schließlich hörte ich eine Stimme:
„Gina, was machst du denn da bloß?“
Wie erleichtert ich war, Tante Gustes Stimme zu hören. Ich nahm die Hände von den Augen und im gleichen Moment wurde mir bewusst, was ich da angerichtet hatte in Mamas Küche, die vorher so schön sauber und aufgeräumt gewesen war.
Tante Guste schimpfte nicht, sie schimpfte nie und wusste für jedes Problem eine Lösung. Sie half mir dabei, alles wieder aufzuräumen, dann stellte sie mich in die Badewanne, denn Mehl, Milch und Hefe lässt sich nicht einfach aus den Haaren bürsten. Sie wusch meine Haare und brachte mich dann ins Bett.
Mama hat nie etwas davon erfahren. Glaube ich jedenfalls. Ich werde ihr mal diese Geschichte geben und schauen, ob das auch stimmt.

© Regina Meier zu Verl

dough-1605312_1280
Bildquelle Counselling/pixabay