Käthe wartet

Käthe wartet

Käthe steht an der Gartenpforte und schaut. Jeden Tag sieht man sie dort, immer zwischen Zwölf und Eins mittags. Sie schaut nach rechts, dann nach links, dann wieder eine Weile geradeaus. Sie wartet.
„Schau, Mama, die Käthe, da steht sie wieder!“ Florian sitzt am Küchentisch und beobachtet die Nachbarin aus dem Haus gegenüber. Er kennt sie gut, aber in den letzten Monaten ist sie so komisch geworden, so dass Florian manchmal sogar etwas Angst vor ihr hat.
„Sie wartet!“, sagt Mama und Florian nickt. „Weiß ich ja. Aber merkt sie denn nicht, dass sie ganz umsonst dort wartet?“
„Nein, Florian, Käthe vergisst es immer wieder. Sie denkt, dass ihre Kinder jeden Moment aus der Schule kommen müssten. Das hat sie mir erzählt und als ich sagte, dass die Kinder doch längst erwachsen sind, da hat sie geweint und ist ins Haus gelaufen.“
„Sie tut mir so leid!“ Florian hat Tränen in den Augen, denn er mag die alte Dame so gern leiden. Früher hat sie ihm Geschichten erzählt. Aber heute ist Florian ja schon ein großes Schulkind und er kann seine Geschichten selbst lesen.
„Meinst du, ich sollte sie mal fragen, ob sie mir eine Geschichte vorliest?“, fragt Florian die Mutter.
„Versuch es, aber jetzt essen wir erst einmal, später kannst du zu ihr gehen.“
„Und wenn sie mich wieder nicht erkennt?“
„Dann stellst du dich vor und sagst ihr wer du bist, wo du wohnst und dass du immer so gern ihre Geschichten hörst. Dann wird sie sich bestimmt erinnern, noch kann sie das!“
Am Nachmittag geht Florian zu Käthe. Mama hat ihm einen schönen Strauß Löwenmäulchen aus dem Garten mitgegeben.
„Ach du lieber Junge“, begrüßt ihn Käthe. „So schöne Blumen“, sie nimmt die Blumen und holt gleich eine Vase aus der Küche.
„Setz dich doch, Kleiner!“
Großzügig überhört Florian das „Kleiner“. Eigentlich mag er das nicht hören, aber Käthe darf das und heute ist sie auch wunderbar gelaunt und nicht so zickig wie beim letzten Mal, als sie sich so darüber geärgert hat, dass sie sich nicht an Florians Namen erinnern konnte und ihm einreden wollte, dass er gefälligst Josef zu heißen hat.
„Ich bin übrigens der Florian!“, sagt er schnell.
„Aber das weiß ich doch, Kleiner. Magst du einen Kakao?“
„Nein, ich habe gerade zu Mittag gegessen, aber eine Geschichte würde ich gern hören.“
Käthes Augen strahlen, sie setzt sich in den großen Sessel, legt die Beine auf die Fußbank und beginnt:
„Heute erzähle ich dir eine Geschichte, die der Josef auch immer so gern gehört hat, weißt du, der Josef, das ist mein Jüngster!“
Florian lauscht der Geschichte, er kennt sie schon, aber das macht gar nichts. Käthe ist glücklich und es tut ihr gut zu erzählen, das merkt Florian und er nimmt sich vor, sie nun wieder öfter zu besuchen.

© Regina Meier zu Verl

Die kleine Kerze aus dem Weltladen

Die kleine Kerze aus dem Weltladen

„Ich will auch eine große Kerze sein“, jammerte die kleine Kerze, die seit ein paar Tagen im Schaufenster des Weltladens lag. „Eine große, dicke Kerze mit einem langen Docht. Und gelb will ich sein. Hellgelb.“
Missmutig blickte sie auf ihr zartrotes Kerzenkleid. Sie gefiel sich nicht, gar nicht.
„So mag mich doch keiner leiden, oder?“
„Dein Gejammer ist ja nicht auszuhalten!“, schimpfte die Teekanne, die direkt neben der Kerze stand. „Man ist, was man ist und daran kann man gar nichts machen. Sei doch zufrieden, ich finde dich recht schön!“
„Recht schön? Du findest mich nur „recht“ schön?“ Die kleine Kerze heulte leise auf. „Siehst du, das ist genau das Problem. Recht ist nicht richtig und recht schön bedeutet nur hübsch, ein bisschen, oder noch weniger. Dabei möchte ich doch eine ganz besondere Kerze sein für einen ganz besonderen Menschen. Aber wie soll der mich je finden, wenn ich so unbedeutend klein und nur recht schön bin?“
Die Teekanne schwieg nun. Insgeheim dachte sie, dass sie es der Kerze sowieso nicht recht machen konnte und eigentlich war es ihr auch egal. Sollte sie doch jammern.
„Siehst du“, jaulte die Kerze, „dazu fällt dir nun auch nichts mehr ein!“
„Streitet nicht, bitte!“, bat ein winziger Porzellan-Engel mit feinem Stimmchen. „Ich mag es nicht, wenn gestritten wird!“
„Oh, das tut mir leid“, sagte die kleine Kerze schnell, obwohl sie nicht wusste, was dieses „gestritten“ bedeuten sollte. „Wir haben nicht gestritten, oder?“
„Beileibe nicht“, murrte die Teekanne, „und nun störe mich nicht länger. Es kommt gerade eine nette Familie zu uns herüber und ich muss lächeln, lächeln, lieb lächeln. Vielleicht nehmen sie mich mit.“
Lächeln? Kann ich das auch? fragte sich die Kerze und gab sich Mühe, auch so ein Lächeln zu zaubern. Dabei verrenkte sie sich aber so, dass sie beinahe abgebrochen wäre. Oh je! dachte sie, nun bin ich nicht nur hässlich rosa, sondern auch noch krumm. Niemals wird mich jemand mitnehmen wollen!
„Hast du ein Glück, Teekanne!“ Sie seufzte tief auf. „Schön bist du und groß und deine Farben leuchten. Ich dagegen bin klein und hässlich. Es stimmt. Mich wird bestimmt niemals jemand mitnehmen.“
„Ha, du dummes Ding!“ Eine wunderschöne gelblilarosafarbene Stumpenkerze lachte heiser auf. Es war kein fröhliches Lachen. „Hoffe und bete, dass dich kein Mensch mitnimmt. Unser Los bei den Menschen nämlich ist kein erfreuliches und ich nenne es ein Glück, hier im Korb für alle Zeiten liegenbleiben zu dürfen. Man hört und sieht so vieles hier. Spannend ist das!“
Die kleine Kerze wollte es genauer wissen. „Nun erzähl schon, was erzählt man sich denn?“
„Na ja, ganz genau weiß ich es natürlich nicht, denn niemals ist eine Kerze zurückgekommen, um die Wahrheit zu berichten.“, meinte die Stumpenkerze. „Was ich aber weiß ist, dass man Kerzen anzündet und dann werden sie klein und kleiner und schließlich sind sie gar nicht mehr da!“
So ein Schreck! Konnte das denn wirklich wahr sein? fragte sich die kleine Kerze und je mehr sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr diese Behauptung.
„Du könntest recht haben!“, sagte sie deshalb leise, um nur ja nicht aufzufallen, denn gerade hatten sich die Kunden genähert und betrachteten sie.
Nein, dachte sie insgeheim, ich mag nicht noch kleiner werden und schon gar nicht mag ich angezündet werden und plötzlich verschwunden sein. Was das wohl bedeuten sollte, dieses anzünden, und ob das schmerzte?
„Guck mal, diese kleine Kerze“, vernahm man plötzlich eine Kinderstimme. „Die ist ja niedlich und sie würde genau in mein Puppenhaus passen!“
Eine andere Stimme kicherte: „Die ist doch ganz krumm!“
„Das macht doch nichts, ich finde sie schön und die Farbe ist toll, genau mein Geschmack!“, sagte nun wieder die Mädchenstimme. „Mama, kann ich die haben?“
Die Mutter trat heran, nahm die Kerze in die Hand und betrachtete sie prüfend. „Sie ist schief. Aber weißt du: schiefe Kerzen werden sehr alt. Sie dürfen nie brennen.“ Die Mutter lächelte und legte die kleine Kerze sanft in die Hand des Mädchens. „Ich denke, sie passt besonders gut ins Puppenhaus. Einverstanden. Wir nehmen sie.“
So kam es, dass die kleine Kerze ins Puppenhaus des Mädchens einzog. Was „anzünden“ bedeutete, hat sie nie erfahren, aber das ist ja auch gut so, nicht wahr?“

© Regina Meier zu Verl & Elke Bräunling

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Bildquelle Pexels/pixabay

Hanna malt ihre Gedanken

Hanna malt ihre Gedanken

Hanna schleicht seit Minuten um mich herum. Stören will sie nicht, aber einfach nur dasitzen und warten, das will sie auch nicht. Amüsiert betrachte ich das Treiben aus dem Augenwinkel, auf meinen Text kann ich mich sowieso nicht mehr konzentrieren. Aber das ärgert mich nicht, das Leben ist hier und jetzt, schreiben kann ich später noch.

„Na, Hanna, ist dein Bild schon fertig gemalt?“, frage ich deshalb, um das Kind zu erlösen. Ihre Augen beginnen zu leuchten, „Endlich“ kann ich darin lesen und freue mich gleich mit.
„Ja, schau mal, ich habe eine Geschichte gemalt und bin sehr gespannt, ob du erkennst, welche es ist!“

Ich betrachte das Bild, das wundervoll bunt ist und viele Details zeigt, die in Ruhe betrachtet werden wollen. Hanna platzt vor Ungeduld, als ich schaue und schaue.
„Na, hast du’s?“
Ich schüttle den Kopf. ‚Manchmal darf auch eine Oma schummeln‘, denke ich und kann das Lachen kaum noch unterdrücken.

„Dieser Frosch hier kommt mir bekannt vor“, sage ich und mache eine Pause, bevor ich mich über das fantasievolle Kleid des weiblichen Wesens auslasse, das dort auf einem Brunnenrand sitzt und weint.
„Jetzt müsstest du aber wissen, welche Geschichte das ist!“, schimpft Hanna empört.
„Weiß ich auch, es ist das Märchen vom Froschkönig!“
Hanna strahlt.
„Du bist die weltbeste Erkennerin!“, lobt sie mich und zieht das nächste Bild hinter ihrem Rücken hervor.

Jetzt wird es schwieriger. Eine alte Frau sitzt in einem Sessel, neben ihr hockt eine Katze auf der Sessellehne. Die Frau hat ein Buch auf dem Schoß, sie liest aber nicht, denn ihre Augen sind geschlossen. An der Wand hängt ein Bild, auf dem ein Hund zu erkennen ist, ein Dackel.
„Hilf mir, Hanna, gib mir einen Tipp“, bitte ich.
„Schau hin“, sagt Hanna und kichert, „du wirst erkennen, welche Geschichte auf dem Bild ist.“
Neben dem Sessel steht ein Korb mit Wolle, aus dem ein halbfertiger Socken heraushängt. Der kommt mir bekannt vor.
„Das ist ja mein Wollkorb!“, rufe ich und freue mich, dass ich der Sache nun auf die Spur komme.
Hanna grinst.
„Dann bin ich wohl die Frau im Sessel, oder?“
Hanna schüttelt energisch den Kopf.
„Nein, das kannst du doch nicht sein, du bist doch allergisch gegen Katzen.“
Das stimmt, ich bin also auf der falschen Fährte. Seltsam ist ja auch, dass die Frau rote Turnschuhe mit neongrünen Bändern trägt.

„Hey, solche Schuhe hast du doch, Hanna, oder?“
„Ja, hier schau, ich habe sie ja an!“
„Die sind aber der Frau auf dem Bild zu klein“, behaupte ich. Hanna überlegt bevor sie antwortet:
„Sie hat sich neue gekauft, in größer.“
„Ach so, dann könnte es ja sein, dass du diese Frau bist, nicht wahr?“
„Stimmt“ Hanna lacht und klatscht übermütig in die Hände.
„Jetzt rate weiter, was ist da los auf dem Bild? Guck doch mal das Buch an, das ich da auf dem Schoß habe“, rät sie.

Auf einmal weiß ich es, das ist das Buch, das ich für Hanna geschrieben habe. Alle Geschichten sind drin, die ich für sie erdacht habe und sie hat es von mir zur Einschulung bekommen. Aber warum ist Hanna so alt auf dem Gemälde und wo bin ich?
Hanna errät wohl meine Gedanken, denn sie fängt an zu erzählen:
„Pass auf! Wir haben heute in der Schule für Lisas Mama gebetet. Du weißt doch, dass sie sehr krank ist und Lisa war heute nicht da und Frau Kruse hat uns gesagt, dass ihre Mama gestorben ist. Alle waren ganz traurig und es tut mir so leid für Lisa, denn nun ist sie allein mit ihrem Papa und eine Oma hat sie auch nicht. Und da musste ich daran denken, dass dir oder Mama auch mal was passieren könnte und dann habe ich auch geweint. Da hat Frau Kruse gesagt, dass von jedem Menschen etwas bleibt, etwas, das uns an ihn erinnert und so bleibt dann dieser Mensch immer im Herzen, auch wenn er mal nicht mehr auf der Welt ist.“

Hanna hat ganz leise erzählt und mir fehlen gerade die Worte, so ergriffen bin ich von ihren Gedanken, denn ich erkenne plötzlich, was sie mir mit dem Bild sagen will.

„Du wirst immer bei mir sein, Oma. Wenn ich mal alt bin, dann setze ich mich in einen Sessel und nehme dein Buch und dann denke ich an dich, oder ich denke mir auch Geschichten aus und schreibe sie in ein Buch und die Katze wird mir dabei zuschauen, denn dann darf ich ja eine Katze haben, weil, wenn du ein Engel bist, dann bist du sicher nicht mehr allergisch, oder?“
„Nein, Hanna, Engel haben sicher keine Allergien!“

Ich setze mich in meinen Sessel und Hanna krabbelt auf meinen Schoß. Ich genieße diesen innigen Moment mit ihr und ihr Bild werde ich in einem schönen Rahmen über mein Bett hängen.

© Regina Meier zu Verl

HIER auch als Hörbuch im Magazin CARL

Rosen alt