Jeder Tag ist wunderbar

Jeder Tag ist wunderbar

Anne hielt beim Schreiben inne und schaute versonnen aus dem Fenster. Was sollte sie einer Frau wünschen, die in den achtzig Jahren ihres Lebens schon so viel erlebt hatte und jetzt schwer erkrankt war? Gesundheit? Glück?
Ach, das war schwer, aber auch sie hatte von Katharina immer Briefe oder Karten bekommen, wenn es ihr einmal nicht so gut gegangen war.
Ein kleiner Spatz landete ungestüm auf dem Fensterbrett. Er stutzte, dann drehte er sein Köpfchen hin und her. Niedlich sah er aus.
Anne lächelte und in ihrem Bauch hüpfte jenes leise, glückliche Gefühl, das ihr immer so viel Kraft gab.
Mit einem Mal wusste sie, was sie schreiben könnte. Es ging doch gar nicht um irgendwelche Floskeln wie „Wie geht es dir, mir geht es gut“ Zuwendung brauchte man, egal in welcher Lebenssituation er sich befand. Sie würde sich Katharina zuwenden, ihr erzählen aus ihrem Leben, sie mitnehmen in ihre Gedanken. Vielleicht war dies das schönste Geschenk, das sie ihr machen konnte.
Ja, das war ein guter Ansatz. Aber halt: Sie musste doch etwas aufpassen, was sie erzählte. Und sie stellte sich vor, sie läge krank und freudlos im Bett. Was würde sie gerne von Freunden hören wollen? Dass es ihnen gut geht? Ja. Dass sie glücklich sind. Auch. Dass sie etwas Schönes erlebt hatten?
„Genau das“, sagte Anne wie bekräftigend. „Ich möchte all das Gute aus ihrem Leben hören. Aber … ein bisschen würde es mich schmerzen, dies alles selbst nicht erleben zu dürfen. Vielleicht nie mehr.“ Sie nahm entschlossen ihren Füller wieder zur Hand, legte den Briefbogen leicht schräg auf den Schreibtisch und begann zu schreiben:
Liebe Katharina, die ersten Frühlingssonnenstrahlen kitzeln meine Nase, während ich hier sitze und an dich denke. Kannst du die Sonne von deinem Bett aus sehen und kitzelt sie dich auch? Gerade hat ein kleiner Spatz mich besucht. Na ja, ich sollte besser schreiben, er hat sich verirrt. Auf mein Fensterbrett hat er sich gesetzt. Richtig empört war er, weil das Fenster ihm den Weiterflug versperrte. Er sah aus wie Fritzi. Erinnerst du dich noch an Fritzi, den kleinen Piepmatz, den wir mit Mehlwürmern großgezogen haben? In Birkenwalde war das. Ach, die friedliche Zeit der Kindheit.“
Anne stand auf und öffnete das Fenster. Tief atmete sie die noch frische Frühlingsluft ein. Duftete sie nicht ein bisschen nach Meer? Und nach frisch gepflügter Erde, ein bisschen auch nach Knoblauch. Sie schnupperte. Ob im Wäldchen schon der Bärlauch wuchs? Wie in Birkenwalde? Wieder schweiften ihre Gedanken in die Kindheit zurück. Es war eine glückliche, erfüllende Zeit gewesen, trotz des Krieges, aber das war ein anderes Kapitel. Sie seufzte und beschloss, die Erinnerungen in ihrem Brief an die Freundin weiter aufzufrischen. Gab es Schöneres als die Gedanken an das Kindsein?
Weißt du noch, wie wir dem Peterle immer wieder Streiche gespielt haben, obwohl es doch so ein herziger Junge war, der uns vergöttert hat? Ob er noch lebt? Hast du später noch einmal etwas von ihm gehört, Katharina? Wie schön wäre es, wenn wir drei uns in diesem Leben noch einmal treffen könnten. Vielleicht hat er den Weg in die Heimat noch einmal geschafft und unseren Schatz ausgegraben. Wie oft denke ich an diese alte Kiste, die wir am Waldrand unter der großen Kiefer vergraben hatten. Für später, wenn wir mal alt sind. Oh ja, was für Ideen wir hatten!
Gerade fällt mir auch Fräulein Sanftenberg wieder ein, die uns mit ihrer Engelsgeduld das Nähen beibringen wollte, weil sich das für ein gut erzogenes Mädchen so gehörte. Hast du es jemals gelernt? Ich nicht, ich kann gerade mal einen Knopf annähen, oder besser gesagt: ich konnte, denn heute sind meine Augen so schlecht, dass es mir schon schwerfällt, einen Faden in die Nadel zu bekommen. Aber die wichtigen Dinge, auf die es ankommt, die kann ich noch sehr gut sehen. Meine Augen haben irgendwann begonnen, nur noch das scharf zu sehen, was sie sehen wollen. Eine richtige Einstellung. Sie blicken zurück und nach vorne und sie verweilen auch gerne in der Gegenwart und bestaunen den Tag. Weißt du, jeder Tag ist kostbar, egal, wie man sich fühlt. Er ist ein Geschenk und ich hoffe so sehr, dass du ihn auch als solches wahrnimmst, meine Liebe.
Anne las das Geschriebene noch einmal durch und beschloss, den Brief mit liebevollen Grüßen zu beenden und noch am gleichen Tag zum Postkasten zu bringen. ‚Wir haben nicht mehr so viel Zeit‘, dachte sie und tröstete sich mit dem Gedanken, dass man jeden Tag wieder neu beginnen konnte, einen wunderbaren Tag zu erleben. Man musste nur genau hinschauen!

© Regina Meier zu Verl

Lebensdrabble 13 „Schneeweißchen und Rosenrot“

Schneeweißchen und Rosenrot

In unserer Viermädelsgruppe der Grundschule waren Heidi und Anke, die von unserer Lehrerin Schneeweißchen und Rosenrot genannt wurden, Marianne, die immer feine Schürzen über ihrer Kleidung trug und ich, die so langsam schrieb, weil ich die Buchstaben mit Hingabe auf Tafel und Papier malte. Oft wurde ich geneckt deswegen, das störte mich aber nicht. Wir verbrachten die Pausen miteinander, luden uns auch gegenseitig zu unseren Kindergeburtstagen ein.
Es machte Spaß, mit den Mädchen zu spielen und noch heute haben wir Kontakt. Ich finde das sehr bereichernd. Vor zwei Jahren trafen wir auch einige von den anderen bei unserer goldenen Konfirmation.

100 Wörter

Anna, Maria und das Lebkuchenherz

Anna, Maria und das Lebkuchenherz

Hier lese ich dir die Geschichte vor. KLICK

Juli 1962 – Die Kinder strömten aus dem Haupteingang des Schulhauses. Endlich Sommerferien! Einige von ihnen blieben noch auf dem Schulhof. Sie tauschten Sammelbilder oder spielten Gummitwist. Lotte und Moni wurden von den Eltern abgeholt, die mit vollgepacktem Auto vor der Schule auf sie warteten.
Fröhlich winkten die Mädchen den anderen Kindern zu. „Schöne Ferien!“, riefen sie.
Maria nahm Annas Hand. Die beiden Mädchen waren allerbeste Freundinnen. Alles machten sie zusammen. Jetzt aber waren sie traurig. Lange würden sie sich nicht sehen.
„Sei nicht traurig, liebe Anna. Es sind doch nur ein paar Wochen. Schon bald bin ich wieder hier bei dir und wir haben alle Zeit der Welt für uns!“, versuchte Maria die Freundin zu trösten. Sie selbst fuhr, wie in jedem Jahr, zu ihrer Oma nach Bayern. Dort würde sie die gesamte Ferienzeit verbringen. Marias Eltern waren berufstätig und konnten sich während der Ferien nicht um sie kümmern.
Anna lebte mit ihrer Familie auf einem Bauernhof außerhalb des Dorfes. Im Sommer gab es dort eine Menge zu tun und jede helfende Hand wurde gebraucht. Das machte Spaß, aber ohne Maria war es nur halb so schön. Schon im letzten Jahr war ihr die Zeit viel zu lang geworden und sie hatte sehnsüchtig auf Marias Rückkehr gewartet.
„Du hättest bei uns bleiben können. Schade, dass es deine Eltern nicht erlaubt haben“, jammerte Anna.
„Wie gern wäre ich bei dir geblieben, aber schau, meine Oma sieht mich ja auch nur einmal im Jahr und sie freut sich so sehr, dass ich komme. In der kleinen Stadt ist es sehr nett und wenn ich da bin, dann ist auch wieder der Jahrmarkt und von dort werde ich dir etwas Schönes mitbringen.“, versprach sie.
Die Freundinnen umarmten sich und verabschiedeten sich schnell, weil jede von ihnen befürchtete, dass es Tränen geben würde. Sie wollten einander nicht weh tun.
„Mach’s gut, liebe Anna, ich werde dir schreiben, versprochen!“ Maria drehte sich schnell um und ging nach Hause.
Wenn Anna gewusst hätte, dass sie ihre Freundin nicht wiedersehen würde, dann hätte sie sie niemals losgelassen. Aber das Leben hatte einen anderen Weg für sie bestimmt.

Während der Sommerferien trennten sich Marias Eltern und sie entschieden, dass Maria bei der Oma in Bayern bleiben sollte. Annas Mutter hatte versucht, ihrer Tochter das schonend beizubringen, doch Anna war untröstlich. Sie schrieb der Freundin einen langen Brief, aber eine Antwort bekam sie nie.
Als sie Marias Mutter einmal besuchen wollte, war auch diese weggezogen. Der Vater hatte eine Stellung in der Stadt gefunden und niemand wusste, wo er jetzt wohnte. Es war wie verhext.

Juli 1972
Zehn Jahre waren vergangen. Anna hatte die Schule längst beendet und machte eine Ausbildung zur Schneiderin. Noch immer dachte sie oft an die Freundin aus Kindertagen und immer wieder zog es sie zum alten Schulhaus, das nun zu einem Heimatmuseum geworden war. Dort setzte sie sich auf die Treppe und träumte von Maria und der glücklichen Zeit, die sie als Kinder miteinander verbracht hatten.
Beim Tanzkurz lernte Anna dann Hans kennen, mit dem sie ihre Zeit verbrachte. Sie tanzten miteinander, sie lachten und hatten viel Spaß und irgendwann hatte Amor seine Pfeile platziert und es war um sie geschehen. Sie verliebten sich und nach ein paar Jahren heirateten sie und bekamen eine Tochter, der sie den Namen Maria gaben. Anna war glücklich.

Juli 1982

Anna war gerade in der Küche beschäftigt, als es an der Haustür schellte. Maria öffnete und rief nach ihrer Mutter, die sich die Hände an der Schürze abwischte und gleich in den Flur lief. Ein junges Mädchen stand vor der Tür. Anna wich jede Farbe aus dem Gesicht, sie hielt sich am Garderobenständer fest und rang nach Atem.
„Mama, was hast du? Ist dir nicht gut?“, fragte die Tochter.
„Nein, nein, es geht schon!“, flüsterte Anna.
Das konnte nicht sein. Dort stand leibhaftig ihre Freundin Maria vor ihr, die sie vor vielen Jahren das letzte Mal gesehen hatte und sie war noch immer ein Kind.
Das Mädchen holte ein Lebkuchenherz aus ihrer Tasche und hielt es Maria hin:
„Ich möchte Ihnen das von meiner Mutter geben, sie hat es Ihnen versprochen!“, sagte sie.
„Wenn du dich verirrst, zeige ich dir den Weg!“, stand in Zuckerschrift auf dem Herzen.
„Deine Mutter?“, fragte Anna, die noch immer nicht begriff.
In diesem Moment kam eine Frau über den Gartenweg zum Haus.
„Da kommt sie ja!“, rief das Mädchen und wies auf die Frau.
„Und ich bin die Tochter Anna und habe schon so viel von Ihnen gehört!“, sagte sie.

Die beiden Frauen standen sich nun gegenüber. Anna konnte es nicht fassen. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen, auch Maria weinte und dann fielen sie sich in die Arme.
„Es gibt so viel zu erzählen!“, sagte Maria, doch Anna wehrte ab.
„Später, kommt doch erstmal herein!“
Dann saßen die beiden Annas und die beiden Marias zusammen am Küchentisch und lachten und weinten und waren froh, dass sie sich wiedergefunden hatten. Auch die beiden Kinder verstanden sich auf Anhieb.
„So lange habe ich auf diesem Tag gewartet“, sagte Maria und drückte der Freundin die Hand.
„Ich ja auch, liebe Maria, endlich bist du da!“

Was genau damals geschehen war, das erzählten sich die Frauen in den nächsten Tagen, denn es waren wieder einmal Sommerferien und Maria und ihre Tochter blieben für ein paar Wochen. Danach verloren sie sich nie wieder aus den Augen und das Lebkuchenherz hat einen besonderen Platz in Annas Haus bekommen.

© Regina Meier zu Verl

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Bildquelle Gellinger/pixabay