Vergesslich? Ich doch nicht! (Reizwortgeschichte)

Die Reizwörter sind: Bibliothek, Buch, betreten, begeistert, beheben

Schaut bitte auch bei meinen Kolleginnen, was sie dazu geschrieben haben

Martina und Lore

Vergesslich? Ich doch nicht!

Als ich die Bibliothek betrat, wusste ich noch genau, was ich dort wollte. Aber, wie das so ist, wenn man einer Fülle an Informationen ausgesetzt ist und sich Buch an Buch reiht, kann man schonmal vergessen, was der eigentliche Grund für den Besuch war.

Das ist aber auch gar nicht schlimm, denn Lesen bildet und es kann ja nicht falsch sein, sich einfach mal inspirieren zu lassen. Ich stehe also mit schräg gelegtem Kopf vor einem Regal und versuchte die Titel der dort stehenden Bücher zu entziffern. Ab und zu greife ich ein Buch heraus und lese ein paar Seiten, manchmal überfliege ich nur den Klappentext. Immer wieder stelle ich fest, dass ich eine große Zahl der Bücher kenne, was aber kein Wunder ist – ich stehe in meiner Lieblingsabteilung, der Kinderbuchoase. Hier kenne ich die Klassiker und die Bücher meiner Lieblingsautoren und immer wieder freue ich mich darüber, etwas ganz Neues zu entdecken. Ich tarne meine Gier damit, mir einzureden, dass ich es meinen Enkeln vorlesen möchte.

Mache ich auch und selbst das ist Eigennutz. Solange sie es lieben, werde ich das schamlos ausnutzen, das könnt ihr mir glauben. Bücher begeistern mich eben und das ist ja kein Charakterfehler, nicht wahr?

Ich gehe nach Stunden dann zur Ausgabe und lasse einen Stapel Bücher einlesen, den ich mit nach Hause nehmen möchte. Wie gut, dass ich meinen Hackenporsche* bei mir habe, das passt allerhand rein, denn zum Tragen sind die Bücher viel zu schwer.

Als ich nach Hause komme, brauche ich erstmal einen Kaffee und dann ein Enkelkind, oder auch mehrere, damit wir mit dem Schmökern anfangen können. Als das Telefon schellt, wird dieses Enkelkinderproblem schnell behoben. Nummer Eins kündigt sich an, das gefällt mir sehr und bei der Gelegenheit fällt mir auch wieder ein, was ich eigentlich in der Bibliothek ausleihen wollte:

„Gedächtnistraining im Alter“ – habe schon viel Gutes über dieses Buch gelesen, vielleicht hilft es ja.

© Regina Meier zu Verl

*Einkaufswagen , auf Rädern, den man hinter sich herziehen kann.

Alles ist möglich (Reizwortgeschichte)

Die Reizwörter sind: Ameise, Ankunft, alt, angeln, angeben

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Martina und Lore

Alles ist möglich


Die alte Adelheid sitzt in einem Ruderboot und angelt. Dabei kommt es ihr gar nicht darauf an, etwas zu fangen, nein, sie genießt einfach die Ruhe und das Alleinsein.
„Ich habe es so gut“, sagt sie sich und seufzt. „Welche Kuh hat so ein großes Glück wie ich und darf in aller Seelenruhe in einem Boot sitzen und angeln?“
Etwas ungewöhnlich ist das schon, oder habt ihr schon einmal eine schwarzbunte Kuh beim Angeln gesehen? Kaum jemand, oder? Ich möchte nicht angeben, aber ich habe eben einen Blick für so etwas und hier kommt mir entgegen, dass eine Kuh relativ groß und kaum zu übersehen ist, nicht wahr? Würde es sich um eine Ameise handeln, wäre mir so eine Sensation sicher verborgen geblieben. Die könnte man mit bloßem Auge kaum entdecken.
Aber zurück zu Adelheid. Ich kann mich noch gut an ihre Ankunft auf unserem Bauernhof erinnern. Damals war es noch Brauch, dass, wenn eine Frau auf einen Hof „einheiratete“, die Nachbarn der Braut eine Kuh als Mitgift gaben. So war das auch bei Adelheid. Sie war eine Mitgift. Darauf war sie zunächst sehr stolz gewesen, denn man hatte sie gewaschen und herausgeschmückt mit einem wundervollen Blumenkränzchen.
Aber sie hatte keinen leichten Start, denn alle anderen Stallgenossinnen kannten sich schon länger und Adelheid als Neue, wurde beäugt und gehänselt. Warum? Sie war schwarzbunt und im Stall gab es ausschließlich braune Kühe. Da Kühe aber ein recht gutes Sozialverhalten haben, lebte sich Adelheid bald ein und schloss auch Freundschaften mit der ein- oder anderen Kuhdame. Eigentlich sind Kühe den ganzen Tag mit dem Fressen beschäftigt, aber es bleibt schon Zeit für ein wenig Geplauder und da erzählt man sich auch von seinen geheimsten Wünschen. Als Freundschaftsbeweis leckt man sich dann gegenseitig das Fell und stößt zufriedene Seufzer aus.
Liese, eine von Adelheids engsten Freundinnen, wünschte sich nichts sehnlicher, als einmal einen ganzen Eimer Erdbeereis verspeisen zu dürfen. Immer und immer wieder hatte sie Adelheid davon erzählt und als auf dem Hof einmal der Gefrierschrank ausgefallen war und eine Riesenportion Erdbeereis geschmolzen war, da war ihr Traum wahr geworden, denn die Bäuerin hatte den Kühen das cremige Dessert hingestellt mit den Worten: „Genießt es, ich kann es nicht mehr verkaufen!“
Da alle Lieses Herzenswunsch kannten, ließ man ihr den Vortritt. Schön, oder?
Lächelnd erinnert sich Adelheid an diesen Tag, während sie hier in ihrem Boot sitzt und angelt. Dieser Wunsch war so einzigartig wie sie selbst und lange hatte sie nicht daran geglaubt, dass er sich erfüllen könnte. Dann hatte ihre Freundin Klärchen ihr aber verraten, dass alles möglich ist, wenn man nur fest genug daran glaubt und ihr einen Satz gesagt, den Clärchen selbst zu ihrem Lebensmotto gemacht hatte. Er lautet: „Wenn’s Beine hat, dann geht’s!“
Ihr seht, man muss nur fest dran glauben, Adelheid hat Beine und sitzt nun im Boot und angelt, das ist der Beweis, oder nicht?

© Regina Meier zu Verl

Adelheid angelt (c) Regina Meier zu Verl

Das Weihnachtsnachthemd

Das Weihnachtsnachthemd

Im Garten ist Winterruhe eingekehrt. Sogar ein wenig Schnee hat es heute gegeben und das bringt Marie völlig aus der Fassung.
„Ist es nun bald soweit? Kommt das Christkind?“, fragt sie ihre Mutter, die in der Küche einen Plätzchenteig knetet.
„Da musst du noch ein bisschen warten, mein Schatz“, antwortet die Mutter.
„Och immer warten, kann denn das Christkind nicht einfach früher kommen?“
Die Mutter lacht.
„Nein, es kommt an seinem Geburtstag, und das ist nun mal, der 24. Dezember.“
„Ich mag aber nicht mehr warten, Mama. Du weißt doch, wie schlecht ich warten kann!“ Die Mutter lacht. Ja, das weiß sie und nicht nur das, sie hat auch vorgesorgt.
„Wenn du mir versprichst, dass du dir Mühe geben willst, nicht allzu ungeduldig zu sein, dann habe ich schon heute ein kleines Geschenk für dich!“, verspricht die Mutter, wischt sich die Hände in ihrer Schürze ab und geht ins Wohnzimmer.
Gleich darauf kommt sie zurück. Sie hält ein rotes, mit lustigen Weihnachtsmotiven bemaltes Hemd in den Händen. Marie verzieht enttäuscht das Gesicht.
„Das ist ja nur ein Nachthemd.“
Die Mutter schmunzelt.
„Es ist ein ganz besonderes Hemd, ein Weihnachtshemd!“
„Was soll daran schon besonders sein, ein rotes Hemd mit Bildern!“, schmollt Marie.
„Zieh es heute Nacht an, dann wirst du sehen, dass es ein ganz besonderes Hemd ist, das verspreche ich dir!“
Am Abend zieht Marie, nachdem sie die Zähne geputzt hat, das „besondere“ Nachthemd an. Sie glaubt nicht, dass sie ihre Meinung über das Hemd ändern wird. Aber – ein Versuch macht klug. Sie liegt noch nicht ganz in ihrem Bett, da fallen ihr die Augen zu. Sie hört eine leise Melodie und plötzlich ist alles ganz warm und hell.
Sie blinzelt und sieht sich erstaunt um. In einem Stall ist sie. Ein Stern taucht die armselige Umgebung in ein strahlend helles Licht. Weißgekleidete Engel singen so wunderschön, dass es Marie ganz anders um Herz wird. In der Krippe liegt das Jesuskind und lacht ihr fröhlich entgegen.
Marie selbst steht in ihrem Weihnachtsnachthemd und barfuß im Stroh vor der Krippe. Sie überlegt, wie sie das Jesuskind ansprechen soll, denn schließlich weiß sie ja, dass es Gottes Sohn ist, der da vor ihr liegt. Gar nicht so einfach! Marie versucht es mit:
„Na du!“ Das ist erstmal unverbindlich. Das Kind sagt nichts, aber es lächelt weiter.
„Ich weiß, wer du bist … und ich bin die Marie!“, fährt Marie fort.
„Schön Marie, dass du uns besuchst und siehst du wie sehr sich das Kind über deinen Besuch freut, aber er ist ja noch ein Baby und kann noch nicht sprechen.“
Marie sah die schöne junge Frau ehrfürchtig an.
„Bist du die Mutter Maria?“
„Ja, wir haben beide fast den gleichen Namen.“
„Aber warum kann das Jesuskind denn nicht sprechen, er ist doch Gottes Sohn?“
„Ja, aber er wurde von Gott als Mensch auf die Erde geschickt und wie jedes Kind muss er auch erst alles lernen.“
Marie reicht dem Kind die Hand und lacht, als es ihren Finger festhält.
Niemand wird ihr glauben, dass sie das gerade erlebt. Aber das ist nicht schlimm, denn wichtig ist, dass es so ist und es ist wunderbar.
Plötzlich hört Marie, dass jemand ihren Namen ruft. „Marie! Du kleine Schlafmütze!“ Das ist eindeutig Mama.
„Ich komme morgen wieder!“, flüstert Marie und öffnet die Augen.
Mama steht an ihrem Bett und lächelt.
„Guten Morgen, mein Kind. Hast du gut geschlafen?“, fragt sie.
Marie kann nur nicken, so ergriffen ist sie noch von dem im Traum erlebten.

Nach dem Frühstück fragt Marie ihre Mutter:
„Sag mal, Mama, funktioniert das Nachthemd jede Nacht?“
Erstaunt sieht Mama ihre kleine Tochter an.
„Was meinst du?“, fragt sie.
„Ach, ist schon gut!“, sagt Marie, die plötzlich weiß, dass sie ihr Geheimnis für sich behalten sollte. Aber aufschreiben würde sie es, ganz bestimmt.

Wenn ich euch nun erzähle, dass Marie, obwohl sie heute erwachsen ist, immer noch ihr Weihnachtsnachthemd hat und es in der Zeit vor Weihnachten mit ins Bett nimmt (sie passt längst nicht mehr hinein), dann wisst ihr, dass es weiterhin funktioniert hat, stimmts?

© Regina Meier zu Verl

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