Mamas Herzenswunsch
Wenn man Mama fragt, was sie sich wünscht, sagt sie immer:
„Ich wünsche mir, dass der Pit kommt und sagt, dass alles wieder gut ist!“
Der Pit ist mein großer Bruder. Er wohnt nicht mehr bei uns. Was damals passiert ist, weiß ich gar nicht mehr so richtig. Mama spricht nicht gern drüber.
Es ist drei Tage vor Muttertag, als ich mir überlege, dass ich Mama gern eine große Freude machen möchte. Ich will keine Blumen schenken und auch kein gemaltes Bild. Ich möchte ihr einen Herzenswunsch erfüllen und das ist ein Besuch meines Bruders. Doch wie soll ich das anstellen?
Ich überlege und überlege und dann hab ich’s plötzlich. Ich werde ihn suchen. Mir wird er den Wunsch nicht abschlagen, denn er hat doch gesagt, dass er mich lieb hat. Er hat es mir auch geschrieben, heimlich. Vor ein paar Wochen, als ich aus der Schule kam, hatte er einen Brief auf meinen Fahrradgepäckträger geklemmt. Darin stand auch seine Telefonnummer. „Da kannst du anrufen, wenn du mich brauchst!“
Ich packe also meinen Brief in die Schultasche und fahre nach der Schule zu Oma. Dort kann ich telefonieren. Ich wähle Pits Nummer, er meldet sich sofort.
„Hallo, kleine Schwester“, sagt er.
„Wann kommst du nach Hause?“, frage ich. Pit sagt nichts.
„Hast du mich nicht verstanden? Wann kommst du nach Hause?“
Ich höre ganz deutlich, dass Pit noch da ist. Wir schweigen beide, dann ein Räuspern.
„Ich kann nicht nach Hause, Pia. Das verstehst du nicht.“
„Ihr Großen seid blöd, immer sagt ihr, dass ich nichts verstehe. Aber ich bin nicht dumm. Mama wünscht sich so sehr, dass du nach Hause kommst.“
„Hat sie das gesagt?“ flüstert Pit.
„Ja, das hat sie und nicht nur einmal, immer sagt sie es und dann weint sie. Pit, am Sonntag ist doch Muttertag, komm doch, damit Mama wieder glücklich ist.“
„Ich kann es nicht“, behauptet Pit und das klingt so, als sei daran nichts zu machen.
„Dann werde ich dich holen“, sage ich, weil er doch gesagt hat, dass er es nicht kann. Vielleicht kann ich ihm ja helfen.
„Pia, das geht nicht, ich wohne doch jetzt in der Nachbarstadt. Du kannst nicht allein hierher kommen.“
„Das wirst du schon sehen!“
Ich gebe Oma das Telefon, sie steht schon die ganze Zeit neben mir und macht Zeichen, dass sie den Pit auch sprechen möchte. Die beiden reden kurz, so etwas wie „Wie geht es dir“ und „Junge, komm doch nach Hause“ und dann legt Oma auf . Sie weint.
„Er wird nicht kommen“, sagt sie und kramt in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch.
Erwachsene sind einfach blöd. Sie leiden und dann tun sie nichts. Sie weinen, aber niemand darf es sehen. Sie sehnen sich nach ihren Kindern oder Müttern und sie tun nichts. Ich kann das nicht verstehen. Aber eines weiß ich: Ich werde nicht einfach zusehen, wie sie alle traurig sind. Ich werde etwas tun.
Am Samstag vor dem Muttertag schlachte ich mein Sparschwein, packe meinen Rucksack und verlasse schon ganz früh am Morgen das Haus. Papa und Mama schlafen noch. Leise schließe ich die Haustür und hole mein Fahrrad aus dem Schuppen. Ich weiß genau, wo der Bahnhof ist, zweimal links und einmal rechts und dann bin ich auch schon da. Mein Fahrrad schließe ich ab und dann schaue ich in der Bahnhofshalle auf die Anzeigetafeln. Ich will nach zu Pit.
Ist das ein Wirrwarr von Zahlen und Buchstaben, da blicke ich nicht durch. Ich frage eine alte Dame.
„Können Sie mir sagen, wie ich zu meinem Bruder komme?“
Die Dame schaut mich von oben bis unten an.
„Bist du nicht viel zu klein, um allein mit dem Zug zu fahren?“
„Nein, das bin ich nicht, ich bin schon acht Jahre alt und mein Bruder holt mich vom Bahnhof ab“, lüge ich und schäme mich ein bisschen.
Die Dame will mir aber nicht helfen, sie sagt, dass ich schleunigst nach Hause gehen soll. Ich nicke und tu so, als ob ich den Bahnhof verlasse, drücke mich aber noch etwas im Eingang herum.
„Ich fahre einfach mit dem Rad“, denke ich mir und gehe zurück zum Fahrradständer. Dort werde ich von einem Polizisten angesprochen.
„Na, junge Dame, ganz allein unterwegs zu dieser Zeit?“ ‚Blödmann’, denke ich und nicke. Er sieht doch, dass ich allein bin.
„Wissen denn deine Eltern, dass du morgens um sechs Uhr allein hier am Bahnhof bist?“
„Ja, klar!“ antworte ich und schließe mein Fahrrad auf.
„Ich fahre jetzt nach Hause, wollte nur meinen Bruder abholen, der heute zum Muttertag nach Hause kommt!“ Schon wieder gelogen, aber irgendwie ahne ich, dass der Polizist einen guten Grund braucht, um mich nicht mit ins Gefängnis zu nehmen.
„Aha!“, sagt der zu mir und guckt streng. Ich bekomme ein bisschen Angst und dann habe ich eine gute Idee.
„Sie können ihn ja anrufen und nachfragen, wenn Sie mir nicht glauben. Die Nummer habe ich dabei.“ Der Mann lässt sich die Telefonnummer geben und tippt sie sofort in sein Handy ein.
„Oberwachtmeister Schulz, guten Morgen. Entschuldigen Sie, dass ich so früh störe, aber hier am Hauptbahnhof steht eine junge Dame vor mir, die behauptet, dass sie Ihre Schwester sei.“
Pit muss einen furchtbaren Schrecken bekommen haben, denn er sagt dem Polizisten, dass er eine Weile auf mich aufpassen soll, er komme sofort, um mich abzuholen.
Das sagt mir der Schutzmann jedenfalls und ich muss grinsen. Ziel erreicht, ohne, dass ich in die Nachbarstadt fahren muss. Pit kommt und holt mich, was will ich mehr?
Es dauert nur eine halbe Stunde, bis Pit vor mir steht. Ich bin total erleichtert und glücklich und dann weine ich ihm auf die Schulter, als er mich drückt und küsst. Er bedankt sich beim Polizisten und dann bringt er mich nach Hause. Dort werde ich bereits vermisst. Als wir klingeln, kommt Mama mit verweinten Augen an die Tür.
„Alles wird wieder gut!“, sagt Pit und dann drückt er Mama und Mama weint auch und ich auch und dann lachen wir und feiern den schönsten Muttertag, den es je gegeben hat.
© Regina Meier zu Verl
