Henny auf Reisen

Henny auf Reisen

So richtig schönen Schnee hatte es in diesem Jahr noch nicht gegeben. Nur ein paar Flocken, die, kaum auf dem Boden angekommen, schon wieder tauten, gab es. Aber das war’s auch schon.
Henny wünscht sich nichts mehr, als endlich den Schlitten aus dem Schuppen zu holen und die kleinen Hügel im Stadtpark hinunterzusausen. Doch bestimmt würde es auch dieses Jahr mit Schnee nichts werden. Henny kannte das schon. Eigentlich gab es nur in den Bergen so richtig schönen Schnee zum Schlittenfahren. In den Bergen und bei Oma in der Eifel. Da gab es Berge, aber um Schnee musste man auch dort bangen.
Mama hielt so gar nichts von Schnee.
„Ich mag dieses weiße Zeug nicht, es sei denn, es ist Sahne auf dem Kuchen!“, witzelte sie, aber das konnte Henny auch nicht aufheitern.
„Könnten wir nicht ein einziges Mal Winterurlaub machen? So wie meine Freundin Lisa? Die fährt jedes Jahr mit ihren Eltern zum Ski fahren in die Berge!“
Mama seufzte.
„Dafür waren wir in den Herbstferien an der Nordsee“, sagte sie und ein bisschen klang ihre Stimme genervt.
„Och! Das ist schon so lange her!“ Henny versuchte es mit einem gedehnten Schmollen, das, so wusste sie, Mama leicht auf die Palme brachte. Meist aber gab sie dann doch nach, um ihre Ruhe zu haben. „Können wir nicht doch?“
Mama regte sich aber dieses Mal nicht auf.
„Doch. Ich glaube, ein Winterurlaub in der Eifel wäre für dich gar nicht so schlecht, oder?“, fragte sie und betonte dieses „für dich“ ganz besonders.
Sollte das etwa heißen, dass Henny ganz allein zu Oma in die Eifel fahren durfte? Vor Aufregung bekam sie einen Schluckauf. „Ich? Hicks, allein?“, fragte sie. Mama lachte. „Immer langsam, junge Dame, Zuerst muss ich mit Oma reden und mit Papa!“, sagte Mama.
„Jajaja! Gleich bitte!“ Vor Aufregung trippelte Henny vor Mama auf und ab.
„Ruf sie bitte gleich an. Hurra! Und dann fahre ich ganz allein mit dem Zug und nehme den Schlitten mit, die Skier und natürlich Ingeborg und Evelyn und Orinocco, ja, der muss auch mit. Und …“
„Halt, halt!“ Mama musste lachen. „Wie willst du das alles tragen und wozu um Himmels willen brauchst du deine Puppen und den Zottelbären beim Schlittenfahren?“
„Das ist doch klar, Mama! Es macht allein nicht so viel Spaß wie mit Freunden. Das sagst du doch auch immer!“ Für Henny war es selbstverständlich, dass die Freunde sie begleiten würden!
Mama seufzte.
„Dein Schneeanzug muss auch noch in den Koffer, die Stiefel und die Skischuhe, ach, und deine Jeans, Pullis, Shirts und die Wäsche. Wie soll das gehen?“
„Und meine Bücher, meine neue Kamera, das Handy und mein Tagebuch“, ergänzte Henny.
„Wir sollten einen Bus mieten!“, lachte Papa, der gerade hereingekommen war.
„Wieso Bus? Fahre ich denn nicht mit dem Zug zu Oma?“, fragte Henny, die für ihr Leben gern Zug fuhr.
„Allein?“ Mama verdrehte die Augen und Henny ergänzte verärgert: „…dafür bist du noch viel zu klein!“
Und beinahe hätte es nun sogar Streit gegeben.
„Okay!“, sagte Papa gerade noch im rechten Moment. „Du packst deine Sachen, Henny, und dann schauen wir, wie du mit all den Gepäckstücken zurechtkommst. Und dann reden wir weiter.“
„Und ich“, ergänzte Mama, „werde bei Oma anrufen. Wer weiß, ob sie überhaupt Zeit für dich hat.“
Oma hatte Zeit. Sie freute sich auf Hennys Besuch und einige Dinge erledigten sich gleich von selbst, denn einen Schlitten und Ski brauchte sie nicht mitbringen, das war alles bei Oma vorhanden. So fanden alle Freunde und genügend Wäsche Platz im Koffer. Die Bücher blieben allerdings zu Hause, denn davon hatte Oma genügend zur Auswahl.
Mama suchte einen Zug aus, der direkt zum Bahnhof fuhr, an dem Oma Henny in Empfang nehmen konnte und außerdem: So klein war sie ja auch nicht mehr, die Henny, immerhin schon zehn Jahre alt! Den Koffer schickten sie voraus, so dass Henny nur ein kleines Handgepäck mitnehmen musste. Darin war jede Menge Proviant und der Bär Orinocco, aber der blieb drin, bis sie bei Oma ankam. Hätte ja sein können, dass sonst einer gedacht hätte, Henny sei noch ein kleines Kind, nicht wahr?

© Regina Meier zu Verl

Vom kleinen Glück*

Vom kleinen Glück

Das kleine Glück saß auf dem Marktplatz und fror. Ach, es war so bitterkalt an diesem letzten Tag des Jahres. Worauf aber wartete das kleine Glück? Es hätte doch einfach in irgendein Haus gehen können, oder in die Kirche, die war immer geöffnet. So einfach war die Sache aber nicht. Das kleine Glück wartete darauf, dass es jemand aufhob und annahm, denn nur dann konnte es seine Kräfte entfalten.

Viele Menschen gingen an ihm vorbei. Sie nahmen es gar nicht wahr, das Glück auf dem Marktplatz. Zu sehr waren sie mit sich selbst beschäftigt. Sie schauten nicht nach rechts und nicht nach links. Sie hatten keine Zeit für einen Gruß, geschweige denn für ein Lächeln. Sie eilten von einem Kaufhaus ins andere und kamen mit prall gefüllten Taschen wieder heraus. Das kleine Glück verstand nicht, warum die Menschen so viele Sachen nach Hause schleppten. Ihre Gesichter machten einen gequälten Eindruck, von der schweren Schlepperei.
Schon vor Weihnachten hatte das kleine Glück das beobachtet und letztendlich niemanden gefunden, an den es sich verschenken konnte. Lediglich Bruno, der alte Setter, der nachts durch die Straßen streunte, hatte das Glück beschnuppert, angenommen und sich mit ihm auf die Suche nach etwas Essbarem gemacht. Und da er das Glück bei sich hatte, fand er im Hinterhof des Restaurants einen dicken Knochen.
Ein kleines Mädchen ging an der Hand seiner Mutter über den Marktplatz. Kaum konnte es den schnellen Schritten der Frau folgen. Doch die hatte es eilig. „Komm, Marie, wir wollen doch noch ein Tischfeuerwerk kaufen, für die Silvesterfeier morgen!“, sagte sie und zog Marie mit sich fort. „Wir brauchen noch Luftschlangen, Glücksschweinchen, Kleeblätter für die Tischdekoration und noch so allerhand Sachen.“
Marie war müde und sie hatte Hunger. Sie hatte auch keine Lust mehr, hinter der Mutter herzulaufen. Ihre kleinen Füße schmerzten. Wie gern hätte sie sich irgendwo hingesetzt und eine heiße Schokolade getrunken, denn kalt war ihr auch. Traurig schaute sie vor sich auf den Boden.
Plötzlich entdeckte sie ein Glitzern im Schnee. Sie wischte sich über die Augen und schaute genauer hin. Da, da war es wieder.
Das kleine Glück hatte das Kind entdeckt und es freute sich über die Aufmerksamkeit des Mädchens. Es hatte sofort das Glitzern entdeckt, an dem alle vorbeigingen und es nicht wahrnahmen. Erfreut hüpfte es in Maries Manteltasche. Das Kind hatte das bemerkt, aber es sagte kein Wort. Gut fühlte es sich an, warm und einfach nur schön.
„Marie, wir sollten eine Pause machen. Sicher ist dir kalt und du bist müde, stimmt’s? Komm, wir trinken einen heißen Kakao, da drüben beim Bäcker. Willst du?“, fragte die Mutter und verlangsamte ihre Schritte.
„Ja, klar, das wäre toll! Ich bin doch ein Glückskind!“, rief Marie begeistert.
Und das war sie auch, schließlich trug sie das kleine Glück in der Manteltasche spazieren. Das blieb noch eine Weile bei ihr, dann hüpfte es wieder hinaus und wartete auf den nächsten, den es glücklich machen konnte, wenigstens ein bisschen. Schließlich war es ja ein kleines Glück.

© Regina Meier zu Verl

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Bildquelle „Braunschweig“ ArtTower/pixabay

Prinzessin oder Indianerin?

Prinzessin oder Indianerin?

Muriel möchte in diesem Jahr beim Karnevalsfest eine Prinzessin sein. Sie war schon Cowboy, Indianerin und Drache. Die Kostüme hat Mama alle selbst geschneidert. Nun soll es also ein Prinzessinnenkostüm werden. Gemeinsam mit Mama zieht sie los, um einen Stoff für das wunderbare Kleid zu kaufen, das ihr vor Augen schwebt. Blau soll es sein und im dazu gehörenden Krönchen sollen blaue Steine glitzern. Ganz genau weiß Muriel, wie es aussehen soll und sie freut sich schon sehr.
Mit dem Bus fahren sie in die Stadt. Muriel fährt so gern mit dem Bus und am liebsten sitzt sie ganz vorn hinter dem Fahrer. Dem würde sie gern ein paar Fragen stellen, aber das darf sie nicht. Mama hat ihr erklärt, dass man den netten Herrn nicht ablenken darf. Er muss ja auf den Verkehr achten, denn er trägt eine große Verantwortung für seine Passagiere.
Das versteht Muriel gut und deshalb hält sie sich daran. Sie fragt eben Mama, die fast alles weiß und meist geduldig auf die Fragen ihrer Tochter antwortet. Heute ist Mama aber etwas schweigsam. Muriel hat es schon beim Mittagessen bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Wenn sie nicht alles täuscht, dann hat Mama sogar geweint. Ihre Augen sind gerötet und immer wieder holt sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischt über die Augen.

„Mama, warum weinst du denn?“
„Ach, ich weine gar nicht. Ich glaube ich bekomme eine Erkältung.“, weicht Mama aus und lächelt gequält. Muriel kennt ihre Mama gut, deshalb ist sie davon überzeugt, dass etwas nicht in Ordnung ist.
„Weinst du wieder wegen Papa?“, fragt sie ganz leise, damit kein anderer es hören kann.
Mama schüttelt den Kopf. „Nein, nein, es ist nichts, mach dir keine Sorgen!“
Muriels Eltern haben in der letzten Zeit oft Streit. Sie denken, dass ihr Kind nichts davon mitbekommt, aber Muriel hat schon oft gehört, dass sie sich anschreien. Meist geht es dabei um Geld. Dann wirft Papa Mama vor, dass sie zu viel ausgegeben hat. Dabei ist Mama sparsam, denn immer wenn Muriel um irgendetwas bittet, dann sagt Mama:
„Kind, wir müssen sparen!“
Muriel ist zwar klein, aber sie ist nicht dumm. Sie spürt genau, dass Mama traurig ist und sicher geht es wieder um Geld und Vorwürfe, die Papa ihr gemacht. In Muriels Bauch bildet sich ein dicker Kloß. Jetzt kriecht auch in ihr die Traurigkeit hoch und sie verliert die Lust auf ein Prinzessinnenkleid. Das würde ja wieder neuen Ärger geben, denn die Zutaten kosten ja Geld. Muriel denkt nach.
„Mama“, flüstert sie. „Ich könnte doch auch das Indianerkleid vom letzten Jahr anziehen. Das ist wunderschön und alle haben mich bewundert!“
„Wie kommst du denn nur darauf?“, fragt die Mutter verwundert. „Es wird dir auch zu klein sein, du bist mächtig gewachsen im letzten Jahr!“
„Dann nähst du einfach noch was unten dran, dann wird es schon passen!“, schlägt Muriel vor. Langsam aber sicher verschwindet der Kloß im Bauch. Die Idee ist doch toll und dann wird Papa auch nicht schimpfen. Nur das zählt im Moment. Muriel möchte, dass Mama wieder lacht. Das ist viel wichtiger als ein blödes Prinzessinnenkleid, viel wichtiger.
„Meinst du?“, fragt Mama jetzt und schnäuzt noch einmal kräftig in ihr Taschentuch. Dann legt sie den Arm um ihr Kind und drückt es an sich. „Du hast dich doch so gefreut auf das Kleid!“
„Ja, das meine ich!“, behauptet Muriel und sie fühlt sich ganz großartig dabei, kein bisschen traurig. Sie sind doch eine Familie und sie müssen zusammenhalten. Außerdem ist Papa doch eigentlich total lieb. Er muss Kummer haben, sonst wäre er nicht so nervös. Muriel möchte nun aber wissen, was denn eigentlich los ist und warum Papa sich so verändert hat.
„Ich bin schon groß, du kannst mir ruhig sagen was los ist“, sagt sie deshalb zu Mama.
Mama zögert noch, doch dann erzählt sie von der kleinen Tischlerei, in der Papa arbeitet.
„Sie haben keine Aufträge und wenn das so ist, dann kommt kein Geld rein. Wenn kein Geld da ist, kann Papas Chef seine Mitarbeiter nicht bezahlen. Erinnerst du dich an die Zeit, als Papa so oft zu Hause war? Da hat er Kurzarbeit gemacht und viel weniger Lohn bekommen!“
Klar, daran erinnert sich Muriel. Das war im Sommer gewesen und sie konnten nicht verreisen in den Ferien. Schlimm fand sie das nicht, denn stattdessen hatte Papa ja viel Zeit für sie gehabt und gemeinsam hatten sie einiges unternommen. Sogar einen Kaninchenstall hatte Papa gebaut. Den hatte sich Muriel lange gewünscht.
„Wenn Papa nun arbeitslos werden sollte, dann müssen wir noch mehr sparen!“, sagt Mama jetzt betrübt.
„Verstehe ich!“, behauptet Muriel und findet ihre Entscheidung, auf das Prinzessinnenkleid zu verzichten, umso richtiger. „Wir sind doch eine Familie, wir müssen zusammenhalten. Wir bummeln jetzt durch die Stadt und fahren dann wieder nach Hause, okay?“
„So machen wir das!“ Mama ist einverstanden und sie ist sehr stolz auf ihre Tochter. Im Supermarkt kaufen sie noch ein paar Zutaten für das Abendessen ein und als sie wieder zu Hause sind, kochen sie gemeinsam und warten auf Papa, den sie mit seinem Lieblingsessen überraschen:
Bratkartoffeln mit Spiegelei.
„Ich liebe Bratkartoffeln!“, sagt Papa. „Aber euch, meine beiden Frauen, liebe ich noch viiiiel mehr!“

© Regina Meier zu Verl 2016

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Bildquelle Bru-nO/pixabay

Julius und sein Schneemann

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Von Julius für den Schneemann gemalt

„Einmal nur möchte ich eine bunte Blumenwiese sehen, das ist mein größter Traum!“, sagt der Schneemann zu Julius, der ihn gebaut hat.
Traurig antwortet der Junge: „Das geht nicht, deine Zeit ist der Winter. Wenn die Sonne wärmer wird, dann wirst du schmelzen!“
„Du hast mich gebaut, also bist du doch mein Vater, stimmt’s?“, fragt der Schneemann.
Julius kichert.
„Das könnte man so sagen!“
„Väter tun alles für ihre Söhne, oder?“
„Alles, was sie können!“, stimmt Julius zu.
„Dann mach, dass ich auf einer Blumenwiese stehen kann!“ Der Schneemann wird immer energischer und Julius immer stiller. Wie soll er seinem Schneemann den Wunsch erfüllen? Er hat keine Idee.
„Mein Vater tut auch alles für mich, aber manche Wünsche kann auch er nicht erfüllen!“
„Es ist aber doch mein einziger Wunsch!“, erwidert der Schneemann.
„Also gut, ich überlege mir was. Aber jetzt muss ich ins Haus, Papa hat schon zum Essen gerufen!“
Als Julius mit seinem Papa am Küchentisch sitzt, fragt er:
„Du, Papa, wenn ich nur einen einzigen Wunsch hätte, würdest du mir den erfüllen?“
„Wenn ich das könnte, dann würde ich es tun. Was wünscht du dir denn?“
„Ach, eigentlich geht es gar nicht um mich, sondern um einen Freund!“
„Erzähl doch mal!“
„Mein Freund der Schneemann draußen wünscht sich auf einer Blumenwiese zu stehen!“
„Wie soll das gehen, es ist doch Winter!“
„Das habe ich ihm auch gesagt, aber er meint, dass es sein einziger Wunsch sei und den möchte ich ihm so gern erfüllen!“, sagt Julius traurig und eigentlich will er gar nicht weinen. Doch da ist es schon passiert, die Tränen kullern die Wangen hinunter.
Papa reicht ihm ein Taschentuch, das er aus der Hosentasche gezaubert hat.
„Mama hätte bestimmt eine Idee“, jammert er. Doch Mama ist nicht da, sie macht eine Kur im Schwarzwald und ist ganz weit weg.
„Vielleicht hätte sie das. Ruf sie doch am Abend mal an!“, schlägt Papa vor.
Plötzlich beginnen Julius’ Augen zu leuchten. Er rast in sein Zimmer und ist in nullkommanichts wieder da. In der Hand hat er ein Bild von Mama.
„Ich hab’s!“, ruft er. „Abends wünsche ich mir immer, dass Mama bei mir ist. Da sie aber nicht kommen kann, nehme ich ihr Bild und schaue es so lange an, bis mir ganz warm wird, vor lauter Liebe und dann geht es mir gleich besser!“
„Das ist schön! Aber was hat das mit dem Schneemann zu tun?“
„Ich male ihm ein Bild und auf dem Bild steht er auf einer bunten Blumenwiese. Das ist dann fast so, als wäre es wahr!“
Papa ist stolz auf seinen Julius und es rührt ihn beinahe zu Tränen, wie klug und gefühlvoll der kleine Mann ist.
Nachdem die beiden den Tisch abgeräumt haben, hilft Papa dabei, ein wunderbares Bild zu malen und später bringt Julius es in den Garten, zu seinem Schneemann. Papa knipst ein Foto vom Schneemann, Julius und dem Blumenwiesenbild und das schicken sie dann zu Mama.
Die wird sich freuen!

© Regina Meier zu Verl 2015

Oma Betty sucht den Frühling

Oma Betty sucht den Frühling

„Ich müsste dringend die Fenster putzen“, seufzt Oma Betty. „Geht aber leider nicht!“
„Warum nicht?“, will ich wissen. Es ist doch ganz einfach, die Scheiben zu säubern, habe ich doch auch schon gemacht.
„Der Lappen würde am Glas festfrieren, es ist viel zu kalt!“, erklärt Oma. So richtig unglücklich scheint sie darüber nicht zu sein.
„Ach so!“, sage ich und freue mich insgeheim, denn wenn sie keine Fenster putzt, hat sie mehr Zeit für mich.
„Komm!“, sagt Oma entschlossen. „Wir ziehen uns warm an und machen einen Spaziergang!“
„Das geht leider nicht!“, behaupte ich, ahne aber, dass ich damit nicht durchkommen werde. Ich kenne diesen Blick von Oma zu gut.
„Warum nicht?“, fragt sie auch schon.
„Meine … meine Füße würden auf dem Weg festfrieren!“, versuche ich ihr zu erklären. Oma lacht.
„Dann müssen wir die Füße schön in Bewegung halten, damit das nicht passieren kann!“
„Tut dir denn deine Hüfte heute gar nicht weh?“, frage ich vorsichtshalber. Könnte ja sein, dass Oma das gerade vergessen hat. Wenn ich nämlich mit ihr mal irgendwo hin will, dann sagt sie oft: „Heute nicht, meine Hüfte schmerzt so, es gibt anderes Wetter!“
„Nö, es geht mir ganz gut. Einem Spaziergang steht nichts im Wege!“
Mir fällt nichts mehr ein, deshalb gebe ich mich geschlagen. Wir packen uns warm ein, nehmen Emmy an die Leine und dann marschieren wir los. Es hat ein wenig geschneit in der Nacht. Emmy findet das toll, sie springt wie ein junger Hund durch den Garten und ich finde es plötzlich auch ganz schön. Als wir die ersten Schneeglöckchen im Garten entdecken, ist Oma völlig aus dem Häuschen.
„Guck mal!“, ruft sie fröhlich und zückt ihr Smartphone. „Das muss ich knipsen!“
„Pass auf, dass dein Finger nicht am Display festfriert!“, rate ich ihr, weil ich gerade wieder an die Fensterscheiben denken muss.
„Recht hast du!“ Oma steckt das Handy wieder in die Manteltasche. „Man muss ja auch nicht immer knipsen, wichtig ist, dass wir mit unseren Augen wahrnehmen, dass die Natur sich schon auf den Frühling vorbereitet, nicht wahr?“, sagt sie.
„Und wenn unsere Augen frieren, dann machen wir einfach die Deckel zu, ne?“
„Genau!“, sagt Oma und dann machen wir uns auf, auch außerhalb des Gartens nach dem Frühling zu suchen. Ja, so ist das mit Oma Betty und mir.

© Regina Meier zu Verl

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Bildquelle manfredrichter/pixabay

Ein Tag am Fenster

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Bildquelle Kathi2408/pixabay

Ein Tag am Fenster

Wie durch ein Wunder war in der Nacht ein Meisenknödelbaum in Opas Garten gewachsen. Besser gesagt: der Baum war schon vorher dagewesen, aber die Knödel, die waren gestern noch nicht dran.

Ich habe gestaunt und mich gefreut, denn die kleinen Piepmätze fanden nach dem langen Winter kaum noch etwas zu fressen. Oma streute ihnen zwar jeden Morgen die Krümel, die vom Frühstück übrig blieben auf die Fensterbank, aber das war einfach zu wenig. Die Tiere hatten Hunger und das hatte ich meinen Großeltern immer wieder gesagt.

„Tut doch was“, hatte ich sie gebeten und wenn ich etwas wollte, dann musste es sofort sein. Von einer Minute zur anderen praktisch. Da spielten Opa und Oma aber nicht mit.

„Immer mit der Ruhe!“ Das war einer von Opas Lieblingssätzen und manchmal machte mich das ganz schön kribbelig.

Wie gesagt, am diesem Morgen stand plötzlich ein Meisenknödelbaum im Garten. Kleine Bällchen in grünen Netzen hingen an den Zweigen. In Pflanzenfett gepresste Körner waren darin, erklärte Oma. Sie selbst habe damit allerdings nichts zu tun, dem Baum seien über Nacht einfach Knödelfrüchte gewachsen.

Den ganzen Vormittag saß ich am Fenster und wartete auf die ersten Vögel. Nichts tat sich.

„Sie trauen sich noch nicht, immer mit der Ruhe!“, sagte Opa, nachdem ich zum hundertsten Mal nachgefragt hatte, wann die Meisen denn endlich kommen würden.

Dann war es so weit, die erste Meise steuerte einen Knödel vorsichtig an, krallte sich fest und pickte an dem köstlichen Inhalt. Sie flog weg, kam nach kurzer Zeit aber zurück. Oder war es eine andere? Egal, es kamen immer mehr Vögel, Meisen und Spatzen und die dicken Drosseln saßen auf dem Boden und schimpften. Sie wollten wohl auch was, trauten sich aber nicht, den Meisenknödel anzufliegen. Also warteten sie, dass etwas zu Boden fiel.

„Ihr seid zu dick!“, rief ich ihnen zu, doch sie nahmen mich gar nicht wahr und das war auch gut so, denn ich hatte Gelegenheit, sie einmal richtig zu betrachten. Ich bewunderte die farbenprächtigen Blaumeisen. Was sie für ein schönes Gefieder hatten, einfach nur wunderbar und die Spatzen waren so herzig, winzig klein, aber frech.

Oma brachte mir einen Zeichenblock und die Buntstifte und so malte ich meine kleinen Freunde, die mir geduldig Modell saßen. Im Laufe des Tages stellte ich fest, wie viele unterschiedliche Vögel Opas Garten bewohnten. Ein Grünfink war auch dabei, „Jupp, Jupp, Jupp“, rief er, und am späten Nachmittag sah ich sogar ein Rotkehlchen. Dieses kleine Vögelchen hatte ich besonders gern, denn Oma hatte mir erzählt, dass es das Rotkehlchen gewesen war, dass den Herrn Jesus getröstet hatte, als er sterben musste.

„Es singt so schön und kann sogar andere Vogelstimmen nachahmen“, erklärte mir mein Großvater. Er kannte sich aus und konnte die Vögel am Gesang unterscheiden.

„Natürlich nur, wenn mich nicht gerade ein Rotkehlchen veräppelt und einen Grünfink imitiert!“

„Das kann ich auch: Jupp, Jupp, Jupp!“, rief ich und dann lachten wir beide so laut, dass die Piepmätze draußen verschreckt Reißaus nahmen.

© Regina Meier zu Verl

Bauchweh, oder wie doch noch alles gut wurde

Bauchweh, oder wie doch noch alles gut wurde

Im Kindergarten wird ein Karnevalsfest geplant. Alle Kinder basteln Fensterbilder und lustige Mobiles, die an der Decke aufgehängt werden. Da gibt es viele Clowns, Zauberer, Elfen, Cowboys und Indianer.
„Ich gehe als Prinzessin“, erzählt Nadja ihrer Freundin Lea, die gerade einen Zwerg aus Tonpapier ausschneidet.
„Ich weiß noch nicht, was ich anziehe“, sagt sie und legt die Schere zur Seite.
„Eigentlich mag ich mich nicht verkleiden, das ist doch blöd!“
Nadja kann das nicht verstehen, sie findet es ganz toll, dass man beim Karneval einmal jemand anders sein darf und Prinzessinnenkleider sind superklasse. Mama hat ihr sogar eine keine goldene Krone gekauft.
Lea würde sich auch gern verkleiden, aber ihre Eltern haben kein Geld. Gerade am Abend vorher hat Mama gesagt, dass kein Cent für unnütze Dinge ausgegeben werden darf. Aber das mag Lea nicht erzählen, die anderen Kinder könnten das sowieso nicht verstehen. Sie wird einfach sagen, dass sie Bauchschmerzen hat und nicht in den Kindergarten gehen kann, nimmt sie sich vor.
„Lea, du schaust ja so traurig. Was ist denn los?“, fragt Frau Werner, die Erzieherin.
„Ich habe Bauchweh“, behauptet Lea und legt die Hände auf den Bauch.
„Soll ich deine Eltern anrufen, damit sie dich abholen?“ Frau Werner macht ein besorgtes Gesicht und legt die Hand auf Leas Stirn. „Fieber hast du aber nicht, das ist schon mal gut!“
„Ich möchte nicht nach Hause, da ist auch niemand. Mama arbeitet doch und holt mich ab, wenn sie Feierabend hat.“
„Dann gehen wir ins Büro und du legst dich einen Moment auf die Liege, was meinst du?“
Lea folgt Frau Werner und legt sich auf die Krankenliege. Sie wird mit einer kuscheligen Decke zugedeckt und dann holt Frau Werner ihr eine Tasse Tee.
„Ich habe gar keine Bauchschmerzen“, sagt Lea, als Frau Werner zurückkommt. „Ich finde es nur so blöd, dass ich mich verkleiden muss!“
„Das musst du nicht, wenn du es nicht möchtest“, beruhigt die Erzieherin Lea.
„Ich möchte ja, aber es geht nicht. Mama kann mir nichts kaufen“, jetzt fängt Lea an zu weinen. Frau Werner reicht ihr ein Taschentuch.
„Das ist doch gar kein Problem, wir haben doch eine große Verkleidungskiste in der Bärengruppe. Da schauen wir zwei jetzt mal nach, ob wir ein passendes Kostüm für dich finden. Der Alex hat sich dort auch etwas ausgesucht.“
Gemeinsam gehen die beiden in die Bärengruppe und wühlen in der Klamottenkiste. Lea findet ein Engelkostüm und Frau Werner holt dazu noch richtige Flügel aus Goldpappe. Die Sachen werden im Büro untergebracht und morgen früh kann sich Lea dort umziehen.
„Danke, Frau Werner, du bist ein Engel“, schwärmt Lea und drückt der Erzieherin einen dicken Schmatz auf die Wange.
„Ich nicht, das bist du doch, meine Liebe. Du wirst wunderschön aussehen und wir verraten keinem anderen Kind etwas, okay?“
„Klar!“, ruft Lea und dann hüpft sie durch den Gang, um schnell wieder in ihre Gruppe zu kommen.

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Zauberseifenblasen

Zauberseifenblasen

Mama hatte Sophie überredet, einen Winterspaziergang mit ihr zu machen. Sophie wollte eigentlich lieber im warmen Zimmer bleiben und mit ihrem Zauberkasten spielen. Doch Mama hatte nicht lockergelassen.
„Frische Luft tut gut und draußen können wir auch zaubern! Ich werde es dir zeigen!“, hatte sie versprochen, und da Sophie neugierig war, zog sie ihre dicke Jacke an und die warmen Stiefel. Oma hatte ihr eine Mütze gestrickt, die zog Sophie über die Ohren und dann ging es los.
„Wann zaubern wir denn endlich?“, fragte Sophie ungeduldig. Sie waren gerade mal ein paar Meter gegangen.
„Warte, bis wir am See sind!“, sagte Mama und lächelte. War sie auch mal so ungeduldig gewesen als kleines Mädchen, fragte sie sich. Bestimmt war das so.
„Als ich klein war, bin ich immer mit meinem Opa spazieren gegangen!“, erzählte sie.
„Habt ihr auch gezaubert?“, wollte Sophie wissen.
„Nein, wir haben uns nur unterhalten, das heißt: eigentlich habe ich geredet und mein Opa hat zugehört!“ Mama lachte und Sophie stimmte ein. „Das kann ich mir gut vorstellen, auch wenn ich meinen Uropa nicht mehr kennengelernt habe!“
„Wieso kannst du dir das vorstellen?“, fragte Mama.
„Na, wenn wir spazieren gehen, dann redest du auch die ganze Zeit und ich sage nichts!“, meinte Sophie, korrigierte sich aber gleich: „Fast nichts!“
„Das stimmt doch gar nicht!“ Mama tat als sei sie beleidigt, ganz so, wie Sophie es immer machte, wenn ihr etwas nicht passte. Um das zu unterstreichen, stampft sie sogar einmal fest mit dem Fuß auf.
„Stimmt jawohl!“, rief Sophie und stampfte ebenfalls mit dem Fuß auf. Dann sahen sich die beiden an und lachten laut auf.
„Wir sind schon zwei Stampfer!“, lachte Mama und Sophie nickte. „Ja, das sind wir!“
Sie waren beim See angekommen. Schön sah es da aus, in den Zweigen rund um das Ufer hing noch ein wenig Schnee und die Ränder des Sees waren zugefroren.
„Ist das nicht toll hier?“, fragte Mama begeistert und zog ein Fläschchen mit Seifenblasen aus ihrer Manteltasche. „Jetzt zaubern wir!“
Sie schüttelte das Fläschchen, nahm den Pustestab heraus und blies hinein. Viele Seifenblasen schwebten durch die Luft und eine setzte sich auf einen Zweig. Was dann geschah, versetzte Sophie ins Staunen. Augenblicklich gefror die Seifenblase und sah aus wie eine richtige Glaskugel.
„Siehst du, ich kann zaubern!“, rief Mama.
„Darf ich auch mal?“, wollte Sophie wissen.
„Klar, aber pass auf, dass du die Flüssigkeit nicht verschüttest, dann ist es aus mit der Zauberei!“
Sophie pustete und schaute den Seifenblasen hinterher. Einige schwebten auf die Erde und wieder gefroren sie sofort.
„So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen!“, schwärmte Sophie und sie konnte gar nicht genug von der Seifenblasenzauberei bekommen. Leider passierte es dann doch, dass sie in ihrer Begeisterung nicht aufpasste und den Inhalt des Fläschchens verschüttete. Wie immer eigentlich!
„Gehen wir morgen wieder hierher?“, fragte sie traurig.
„Gern, und dann nehmen wir den Fotoapparat mit, damit wir die Zauberseifenblasen knipsen können!“, versprach Mama.
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Zauberseifenblasen

Tanja Esche liest Euch hier die Geschichte vor! Lasst euch von ihrer tollen Stimme verzaubern!

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Bildquelle birgl/pixabay

Opa und Julia schreiben ihren Jahresrückblick

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Bildquelle AkhilKokani/pixabay

Opa und Julia schreiben ihren Jahresrückblick

„Stör Opa bitte nicht, Julia! Er braucht heute seine Ruhe!“ Mama fängt Julia auf dem Weg ins Wohnzimmer ab.
„Will ich ja gar nicht, ich möchte nur ein wenig zuschauen. Was macht er denn eigentlich?“, fragt Julia neugierig, denn Opa sitzt nun schon seit Stunden am Schreibtisch im Wohnzimmer. Manchmal schreibt er etwas auf, aber die meiste Zeit schaut er einfach vor sich hin und denkt.
„Er schreibt seinen Jahresrückblick. Du weißt doch, dass er das in jedem Jahr zwischen den Feiertagen macht und pünktlich zu Silvester schickt er den Bericht an alle Verwandten und Freunde.“
„Oh, da muss er sich aber beeilen, spätestens am 30. Dezember muss die Post ja dann im Briefkasten sein, oder?“
„Stimmt! Wir haben aber beschlossen, dass wir das in diesem Jahr per Mail machen, dann muss er es nur ein einziges Mal schreiben und erreicht doch fast alle.“
„Gute Idee!“ Julia gefällt das und sofort erwacht in ihr der Wunsch, auch so einen Rückblick zu schreiben. Wenn Mama wieder in der Küche verschwunden ist, wird sie sich zu Opa schleichen und ihn fragen, wie man das macht.
Leise öffnet sie die Tür zum Wohnzimmer. Gemütlich ist es darin, die Lichter am Weihnachtsbaum leuchten und im Kamin flackert ein lustiges Feuer.
„Hallo Opa, magst du einen Tee trinken?“, fragt Julia.
„Das ist eine gute Idee. Bringst du mir einen?“ Opa schaut erfreut auf. „Ich könnte eine kleine Pause gebrauchen und vielleicht kannst du mir sogar ein bisschen helfen!“
Das klingt spannend, gern will Julia helfen. Doch zuerst holt sie Tee aus der Küche und ein paar Kekse, die könnten beim Denken behilflich sein, findet Julia.
„Danke, mein Kind. Dann können wir ja loslegen. Kannst du dich noch an meinen Geburtstag erinnern, Julia?“
„Klar, Opa, das war ein tolles Fest. Alle Verwandten waren da, es gab leckeres Essen und später haben wir sogar getanzt!“
„Weißt du auch noch, wie das Lied hieß, dass die Gratulanten für mich gesungen haben? Ich denke schon die ganze Zeit drüber nach und es will mir einfach nicht wieder einfallen. Ich möchte es gern als Motto für meinen Jahresrückblick nehmen.“
„Was ist das? Ein Motto?“, will Julia wissen.
Opa erklärt: „Wenn ihr in der Schule einen Aufsatz schreibt, dann bekommt ihr doch ein Thema gestellt. Ein Motto ist so was Ähnliches: ein Thema, das als Überschrift gilt und zu dem man immer irgendwie wieder hinleitet. Ein Leitgedanke sozusagen!“
„Ich verstehe, warte!“, Julia überlegt einen Moment, dann fängt sie an zu singen.
„Das Lesen ist des Peters Lust, das Lesen ist des Peters Lust, das Le-he-sen. Er liest so gern bei Tag und Nacht, das Licht wird niemals ausgemacht bevor das Buch zuende ist, zu-en-hen-de!“
Opa lacht. Ja, genau so war das und es stimmt ja auch, er ist eine Leseratte. Er liest immer, jeden Tag und jeden Abend und es macht ihm große Freude.
„Danke, Julia!“ Opa ist dankbar, nun hat er sein Motto gefunden und schon beginnt er zu schreiben.
„Opa, was schreibst du jetzt?“
„Ich schreibe über die Bücher, die ich in diesem, Jahr gelesen habe und über die Ereignisse des Jahres – eben alles, was so passiert ist. Dafür nutze ich mein Tagebuch, denn da habe ich ja schon alles aufgeschrieben. Der Jahresrückblick wird nur kürzer werden, sonst mag das ja niemand lesen, nicht wahr?“
„Ich verstehe!“ Julia steht auf und will gerade das Zimmer verlassen, als der Großvater sie zurückruft. „Wo willst du denn hin?“
„Ich hole mein Tagebuch und dann fange ich auch an zu schreiben!“
„Und wie lautet dein Motto?“, will Opa wissen.
„Mein Opa und ich und die Tagebücher“, antwortet Julia verschmitzt.
An diesem Nachmittag werden die beiden nicht mehr gesehen, sie sind in ihre Tagebücher vertieft und picken die interessantesten Ereignisse heraus, um sie mit den Freunden und der Familie zu teilen. Das macht Spaß, ungeheuren Spaß!

© Regina Meier zu Verl

Vom kleinen Glück

Vom kleinen Glück

Das kleine Glück saß auf dem Marktplatz und fror. Ach, es war so bitterkalt an diesem letzten Tag des Jahres. Worauf aber wartete das kleine Glück? Es hätte doch einfach in irgendein Haus gehen können, oder in die Kirche, die war immer geöffnet. So einfach war die Sache aber nicht. Das kleine Glück wartete darauf, dass es jemand aufhob und annahm, denn nur dann konnte es seine Kräfte entfalten.

Viele Menschen gingen an ihm vorbei. Sie nahmen es gar nicht wahr, das Glück auf dem Marktplatz. Zu sehr waren sie mit sich selbst beschäftigt. Sie schauten nicht nach rechts und nicht nach links. Sie hatten keine Zeit für einen Gruß, geschweige denn für ein Lächeln. Sie eilten von einem Kaufhaus ins andere und kamen mit prall gefüllten Taschen wieder heraus. Das kleine Glück verstand nicht, warum die Menschen so viele Sachen nach Hause schleppten. Ihre Gesichter machten einen gequälten Eindruck, von der schweren Schlepperei.
Schon vor Weihnachten hatte das kleine Glück das beobachtet und letztendlich niemanden gefunden, an den es sich verschenken konnte. Lediglich Bruno, der alte Setter, der nachts durch die Straßen streunte, hatte das Glück beschnuppert, angenommen und sich mit ihm auf die Suche nach etwas Essbarem gemacht. Und da er das Glück bei sich hatte, fand er im Hinterhof des Restaurants einen dicken Knochen.
Ein kleines Mädchen ging an der Hand seiner Mutter über den Marktplatz. Kaum konnte es den schnellen Schritten der Frau folgen. Doch die hatte es eilig. „Komm, Marie, wir wollen doch noch ein Tischfeuerwerk kaufen, für die Silvesterfeier morgen!“, sagte sie und zog Marie mit sich fort. „Wir brauchen noch Luftschlangen, Glücksschweinchen, Kleeblätter für die Tischdekoration und noch so allerhand Sachen.“
Marie war müde und sie hatte Hunger. Sie hatte auch keine Lust mehr, hinter der Mutter herzulaufen. Ihre kleinen Füße schmerzten. Wie gern hätte sie sich irgendwo hingesetzt und eine heiße Schokolade getrunken, denn kalt war ihr auch. Traurig schaute sie vor sich auf den Boden.
Plötzlich entdeckte sie ein Glitzern im Schnee. Sie wischte sich über die Augen und schaute genauer hin. Da, da war es wieder.
Das kleine Glück hatte das Kind entdeckt und es freute sich über die Aufmerksamkeit des Mädchens. Es hatte sofort das Glitzern entdeckt, an dem alle vorbeigingen und es nicht wahrnahmen. Erfreut hüpfte es in Maries Manteltasche. Das Kind hatte das bemerkt, aber es sagte kein Wort. Gut fühlte es sich an, warm und einfach nur schön.
„Marie, wir sollten eine Pause machen. Sicher ist dir kalt und du bist müde, stimmt’s? Komm, wir trinken einen heißen Kakao, da drüben beim Bäcker. Willst du?“, fragte die Mutter und verlangsamte ihre Schritte.
„Ja, klar, das wäre toll! Ich bin doch ein Glückskind!“, rief Marie begeistert.
Und das war sie auch, schließlich trug sie das kleine Glück in der Manteltasche spazieren. Das blieb noch eine Weile bei ihr, dann hüpfte es wieder hinaus und wartete auf den nächsten, den es glücklich machen konnte, wenigstens ein bisschen. Schließlich war es ja ein kleines Glück.

© Regina Meier zu Verl

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Bildquelle „Braunschweig“ ArtTower/pixabay