„Hier ist alles anders als zuhause, aber es gefällt mir!“, sagte Bine beim Frühstück und schob sich ein Stück Wassermelone in den Mund. „Köstlich schmeckt die hier, viel besser als daheim.“
Mama lachte. „Es sind die gleichen Melonen, die wir auch bei uns kaufen können.“
„Falsch“, sagte Bine. „Es sind Urlaubsmelonen und die schmecken viel viel viel süßer. Und saftiger. Besser eben. Genauso wie Urlaubseis, Urlaubssalat, Urlaubsschnitzel und Urlaubsbrot.“
„Und was schmeckt bei all diesen „Urlaubs“-Leckereien anders?“, erkundigte sich Mama.
„Keine Ahnung. Sie riechen auch besser. Nach Ferien, Spaß und … nach Urlaub eben!“, antwortete Bine. Sie schmatzte.
„Das liegt an der Luftveränderung!“, behauptete Papa, der immer alles erklären wollte. „Denk doch mal an den Wein auf Sardinien, Annette! Den genossen wir dort auf der Insel mit Freuden und zu Hause konnte man ihn nicht genießen. Dies liegt an der Luft, am Meer, an der Sonne und so.“
„Auch weil im Urlaub alles viel mehr Spaß macht. Und weil wir mehr Zeit zum Essen und Trinken haben als daheim. Das kann man alles schmecken“, krähte Bine.
„Zeit kann man schmecken?“ Verständnislos sah Papa Bine an.
Mama aber nickte. „Wie recht du hast, Binekind“, murmelte sie.
„Wir können doch daheim versuchen, dieses Urlaubsgefühl zu behalten!“, überlegte Bine und ihre Augen strahlten. „Das wäre cool.“
Da seufzte Mama. „Das ist nicht so einfach, mein Schatz! Wenn der Alltag uns in seinen Fängen hat, vergisst man schnell alle guten Vorsätze.“
„Stimmt.“ Papa stellte eine leere Limoflasche auf den Tisch. „Aber das muss nicht so sein. Lasst uns ganz viele schöne kleine und große Momente in diesem Urlaub sammeln. Die packen wir in diese Flasche hinein und stellen sie daheim neben Salz- und Pfefferstreuer auf den Esstisch.“
„Super!“, rief Bine. „So machen wir das, und ich packe gleich den ersten schönen Moment hinein: Urlaub ist toll und mit allen zusammen noch toller!“
Das Stroh ist eingefahren, riesige Rundballen lagern in der Scheune. Die Felder sind leer, kein Hälmchen mehr, keine Kornblume, kein Klatschmohn. Schon bald wird der Trecker seines Amtes walten und das abgeerntete Feld grubbern oder pflügen. Ein ewiger Kreislauf! Während sich alle freuen, steht Marius mitten im Stoppelfeld und kämpft mit den Tränen. So schön war der Acker gewesen mit den geschmeidigen Kornhalmen und den Blüten, die so schöne Farbtupfer abgegeben haben. Oft hat er sich hier versteckt und die kleine Welt mit all den Tieren beobachtet. Und nun sind sie alle verschwunden. „Schade“ murmelt er. „Das finde ich auch!“, sagt eine feine Stimme. Marius kann niemanden sehen. Komisch! „Hier unten bin ich, sei vorsichtig mit deinen großen Füßen“, sagt die Stimme wieder. Marius beugt sich hinunter und sieht einen sehr kleinen Feldhamster, der noch ganz jung sein muss. „Oh!“ Marius ist verdutzt. „Ein Feldhamster, der sprechen kann?“ „Weiß der Himmel, warum ich eure Sprache verstehe.“ Der kleine Hamster seufzt. „Ehrlich gesagt weiß ich es auch erst seit eben. Vielleicht sind es nur deine Worte, die mich erreichen und ich muss sagen, es gefällt mir.“ Er seufzt noch ein bisschen mehr. „Es ist doch gut, dass man immer eine Sache hat, die sich gut anfühlt, denn ehrlich, dass ihr meine Heimat mit eurer großen Maschine zerstört habt, das, ja, das gefällt mir überhaupt nicht.“ „Ich verstehe dich so gut, lieber Hamster. Mir geht es nicht anders. Aber weißt du, wir brauchen doch das Korn, um es zu mahlen und aus dem Mehl dann Brot und Kuchen zu backen!“, versucht Marius dem Hamster zu erklären. So hat er es gelernt und es leuchtet ihm auch ein. Allerdings haben die Menschen früher nicht so riesige laute Maschinen dafür benutzt und die sind trotzdem satt geworden, oder? Aber das sagt er dem Hamster besser nicht, er würde es nicht verstehen. „Mehl? Brot? Kuchen? Braucht ihr Menschen das?“ Fragend sieht der kleine Kerl Marius an. „Ich kann zwar deine Worte verstehen, aber was sie mir sagen möchten, verstehe ich nicht immer.“ „Ob wir das unbedingt brauchen? Das weiß ich nicht, aber es ist lecker. Warte, ich glaube, ich einen Keks bei mir, dann kannst du mal probieren!“ Marius wühlt in seinen Hosentaschen und findet tatsächlich ein kleines Paket Butterkekse für den Notfall. Vorsichtig nimmt der kleine Hamster das seltsame Ding, das sich Keks nannte, in seine Pfötchen und schnuppert, dann probiert er, vorsichtig, ein bisschen misstrauisch auch, kaut, schluckt, beißt noch einmal ab und ein Strahlen überzieht sein Gesichtchen. „Hmmmm!“, macht er und noch einmal: „Hmmmm!“ Marius grinst. Es schmeckt dem Hamster, es ist nicht zu übersehen und zu überhören. „Siehst du, ich habe es doch gesagt, Kekse sind lecker!“, sagt er und beißt selbst noch einmal genüsslich ab. „Und dafür muss man das Korn mahlen?“, fragt der kleine Hamster. „Ja, genau. Man mahlt es zu Mehl und dann kommen ein paar weitere Zutaten dazu und es wird im Ofen gebacken. Brot ist auch sehr lecker und Kuchen auch. Wenn du willst, bringe ich dir beim nächsten Mal kleine Kostproben mit“, schlägt Marius vor. „Oh ja, oh ja, das wäre mir eine Freude, aber…“ Der kleine Feldhamster macht eine Pause und ringt nach Worten. „Ein nächstes Mal, das wird nicht möglich sein. Noch heute Abend werde ich mit meiner Familie umziehen, irgendwohin, wo die Menschen uns unsere Nahrung nicht wegnehmen. Schade, oder nicht?“ Er deutete eine kleine Verbeugung an. „Aaaber … du musst mir nur sagen, wohin ihr zieht, dann werde ich dich besuchen und bringe Kuchen mit, halt, ich habe eine noch bessere Idee …“ Marius will den kleinen Freund nicht so schnell wieder verlieren, deshalb will er ihn überreden, zu ihm in den Garten zu ziehen. Da gibt es einige schöne Stellen, wo er sich mit seiner Familie einrichten könnte, und niemand würde sie stören. Während er noch überlegt, wie er dem kleinen Hamsterfreund seinen Vorschlag schmackhaft machen könnte, hallt plötzlich Mamas Stimme über das Feld. „Marius! Hörst du mich? Marius! Kommst du? Wir wollen nach Hause fahren.“ Nach Hause? Jetzt schon? „Komme gleich!“, ruft er schnell und überlegt fieberhaft, was nun zu tun ist. „Lieber Hamster, können wir uns hier morgen früh noch einmal treffen? Ich würde dich und deine Familie gern in unseren Garten einladen. Aber ich muss das erst vorbereiten und dann brauche ich ja auch einen Korb oder sowas, in dem ihr mit mir auf dem Fahrrad mitfahren könnt!“ „Mit dem Fahrrad?“, fragt der Hamster ängstlich. „Ist das denn nicht gefährlich? Und wie sollen wir dann wieder nach Hause kommen? Und überhaupt. Ich würde sagen …“ Mehr sagt der Hamster nicht mehr, das heißt, mehr kann Marius nicht mehr hören, auch wenn er noch so sehr die Augen aufreißt und nach ihm Ausschau hält: Der Hamster ist verschwunden. „Seltsam!“, murmelt er und reibt sich die Augen. „Was hat ihn so erschreckt und wie konnte er verschwinden? Ich habe gar nichts gesehen. hm?“ „Komm jetzt, Marius“, ruft die Mutter schon wieder. „Und träume nicht andauernd.“
Natürlich setzt sich Marius am nächsten Morgen auf sein Rad und fährt zu dem abgeernteten Feld. Ob er da den Feldhamster antrifft? Oder hat er das nette Gespräch mit ihm nur geträumt. Als er aber an der Stelle vom Vortag einen halben Butterkeks entdeckt, musste ja wohl etwas dran gewesen sein an der Geschichte, oder?
Als ich diese Geschichte geschrieben habe, hatte ich meinen Sohn vor Augen, der als kleiner Junge genau diese Mundbewegung gemacht hat und ständig einen Sandbart hatte, so wie der Steffen …
Was wächst denn da?
Steffen kann schon ganz allein Traktor fahren. Sein Vater ist darüber sehr froh, denn auf dem Bauernhof fällt gerade im Sommer sehr viel Arbeit an. Da wird jede helfende Hand gebraucht.
Während Steffen mit dem Traktor und Pflug dahinter das riesige Feld pflügt, kann der Vater sich schon mal um die Saat kümmern.
„Steffen, ich fahre mal schnell zur bäuerlichen Genossenschaft und hole das Saatgut. Kommst du allein zurecht?“
„Klar, Papa, ich bin doch schon groß“, antwortet Steffen und macht ein wichtiges Gesicht. Einen Bart hat er auch schon, der ist aber nicht echt, sondern vom Sand, der beim Pflügen durch die Luft wirbelt. Steffen hat die Angewohnheit, dass er sich mit der Zungenspitze um die Lippen leckt, wenn er sich konzentrieren muss und das muss man beim Trecker fahren. Der schwarze Sand haftet besonders gut auf der feuchten Oberlippe und es sieht aus, als habe er schon einen richtigen Männerbart.
Papa grinst und schon ist er weg.
Nach ein paar Minuten kommt Onkel Josef mit seinem Fahrrad angefahren. Er stellt sich an den Ackerrand und schaut dem Steffen bei der Arbeit zu.
Steffen beschließt, mal eine kurze Trinkpause einzulegen und stoppt den Traktor auf Onkel Josefs Höhe.
„Hallo Steffen, du bist ja ein fleißiger Bauer“, ruft der ihm zu.
Steffen steigt vom Traktor ab, steckt die Hände in die Hosentaschen, wie die großen Männer das auch tun und geht auf den Onkel zu.
„Ja, ja“, sagt er. „Der Papa ist ganz schön froh, dass er mich hat.“
Der Stolz blitzt ihm aus den Augen und Onkel Josef klopft ihm anerkennend auf die Schulter.
„Ja, das kann ich verstehen. Du bist ja auch schon eine große Hilfe, das ist gar nicht so selbstverständlich. Was sät ihr denn in diesem Jahr hier aus?“
Der Steffen kratzt sich kurz am Kopf und denkt nach.
„Ich weiß nicht genau, aber ich glaube Stroh.“
Der Igel Konrad, der mit seiner Frau auf der Suche nach einem geeigneten Platz für den Winterschlaf war, hatte Hunger und Durst und wollte unbedingt eine Pause einlegen.
„Lass uns ein wenig hier rasten“, schlug er deshalb vor, erntete aber nur einen bösen Blick von Kornelia.
„Wir können doch nicht ständig Pausen machen“, zeterte sie und lief noch ein bisschen schneller, so dass Konrad kaum folgen konnte. Er schnaufte und stöhnte, doch Kornelia ließ sich nicht beirren.
„Schau“, sagte sie, „die Bäume sind schon fast kahl, es wird Zeit, dass wir einen Unterschlupf finden, in dem wir sicher sind. Schlafen und dich ausruhen, das kannst du dann den ganzen Winter lang.“
„Ich will aber auch was vom Leben haben und nicht immer nur vorsorgen. Guck doch mal, die Sonne, sie lacht uns an und ruft: Ruht euch aus, ich wärme euch mit meinen Strahlen!“
Kornelia schüttelte unwillig den Kopf.
„Du bist ein Spinner, mein Lieber. Die Sonne kann gar nicht rufen, sie kann strahlen oder nicht strahlen, das ist auch schon alles.“
Konrad wurde immer trauriger. Er liebte seine Kornelia, aber sie war überhaupt nicht romantisch, kein kleines Bisschen. Das fand er nicht schön.
„Die Sonne kann strahlen, lachen, wärmen, trocknen, erhitzen, verbrennen, Regenbogen machen und rufen. Lausch doch mal, dann wirst du es hören!“
Es begann alles damit, dass meine Mutter sagte: „Die Tomaten sind reif und es sind so viele, dass wir in den nächsten Tagen viele Rezepte ausprobieren werden.“ Seitdem dreht sich hier bei uns alles um die Tomaten.
Ich mag ja Tomaten, wirklich. Abends, auf dem Butterbrot mit Salz und Pfeffer, auch mal mittags, dann am liebsten als Tomatensauce auf den Nudeln. Manchmal beiße ich sogar in so eine dicke Fleischtomate wie in einen Apfel. Aber irgendwann ist es dann auch gut.
Gestern gab es Tomatensalat, dazu frische Bratkartoffeln und ein Spiegelei. Das war auch lecker, aber, wie schon gesagt, es reicht jetzt! Mir kommen die Tomaten nun bald zu den Ohren wieder raus und nachts träume ich sogar schon von den roten Früchten.
Heute will Mama nun Tomatenmarmelade kochen. Das wird ihr erster Versuch und ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass das schmecken wird. Igitt, Tomatenmarmelade. Also ich weiß ja nicht. Aber weil ich ein netter Mensch bin, äußere ich meine Bedenken erstmal nicht und helfe sogar bereitwillig beim Enthäuten, Entkernern und Schnippeln. Gut ist, dass für das Rezept sehr viele Tomaten verbraucht werden und man die Marmelade nicht sofort verzehren muss, sollte sie denn schmecken. Die hält sich und landet erstmal in den Vorratsregalen im Keller. Das beruhigt mich.
Wenn wir andere Marmeladen kochen, nasche ich immer von den Früchten und ernte dann jedes Mal einen Rüffel von Mama. „Die habe ich doch schon abgewogen, Lea. Man muss ganz genau sein bei den Mengen, sonst geliert der Fruchtbrei nicht!“ Heute verkneife ich mir das Naschen, bin völlig tomatensatt.
Im großen Topf sind nun die Tomatenwürfel, ein Päckchen Vanillezucker, der Saft einer dicken Zitrone und der Gelierzucker. Ich darf mit dem Pürierstab alles zu einem Brei zerkleinern und dann wird alles zum Kochen gebracht. Die Gläser hat Mama schon ausgekocht und die Deckel ebenfalls. Schon bald kocht der Tomatenbrei, sprudelnd, vier Minuten lang. Dann füllt Mama die heiße Marmelade in die Gläser, schraubt den Deckel drauf und stellt das fertig gefüllte und verschlossene Glas auf den Kopf. Das macht man so, sagt sie und wenn sie das sagt, dann wird das schon richtig sein. Zehn Gläser werden es, und ein halbes, das ist zum Probieren. Na ja, viel verspreche ich mir davon nicht.
Als ich dann aber am Abend etwas von der nun kalten Marmelade auf mein Käsebrot streiche, staune ich nicht schlecht. Das schmeckt, und wie das schmeckt. Köstlich!
Wer es nachmachen möchte, dem verrate ich unser Rezept:
1500 Gramm reife Tomaten, häuten, entkernen, schnippeln, in Würfel schneiden, den Saft einer Zitrone dazu, ein Päckchen Vanillezucker und den Gelierzucker, ebenfalls 1500 Gramm dazu. Das ganze pürieren, dann vier Minuten sprudelnd kochen lassen und in die Gläser abfüllen. Guten Appetit!
„Halloooo! Wo seid ihr? Will uns denn keiner haben? Halloooo?“
Laut und turbulent ging es zu auf der Obstwiese. Besonders hinten beim Zwetschgenbaum, wo sich die reifen Zwetschgen laut zu Wort meldeten.
„Will uns denn keiner ernten?“
„Hört auf zu jammern, da oben!“, schimpfte der Zwetschgenbaum. Ihr seid noch gut dran. Meine Schmerzen müsstet ihr haben, dann wüsstet ihr, wie schwer die Last ist, die ich zu tragen habe. Ich wünsche, es käme ein Wind, der euch abschüttelte!“
„Abschütteln? Uns? Nein! Was fällt dir ein!?“
Aufgeregt schrien die Zwetschgen ihren Ärger in den Tag hinaus.
„Nicht auszudenken, was uns alles passierte, lägen wir auf dem Boden“, ereiferte sich eine.
„Vom Bodensturz ganz abgesehen“, sagte eine andere. „Wer weiß, wie wir uns dabei verletzen könnten.“
„Oh, oh, das gäbe blaue Flecken!“, klagte eine dicke Zwetschge, die weit oben in den Zweigen hing.
Da musste der Baum herzlich lachten. „Blaue Flecken, dass ich nicht lache, ha ha! Ihr seid doch sowieso blau, ihr blöden Zwetschgen, hahaha!“
Er lachte so sehr, dass gleich ein paar Zwetschgen hinunter purzelten.
„Au, aua, autsch!“, heulten die Zwetschen auf. Die, die auf den Boden fielen, heulten ebenso laut wie die, die sich an ihren Plätzen in den Zweigen festhalten konnten. Sie waren halt etwas zimperlich, diese blauen Früchtchen.
„Wenn ihr erst entsteint, aufgeschnitten und mit Zimt und Zucker bestreut auf einem Kuchenteig in den Backofen geschoben werdet, sehnt ihr euch gerne danach, einfach nur auf den Boden fallen und dort für alle Zeiten liegen bleiben zu dürfen“, brummte der Zwetschgenbaum, dem die zickigen Früchtchen etwas auf die Nerven gingen.
Die Zwetschgen schwiegen. Sie mussten darüber nachdenken, was der Baum gesagt hatte. Gut hörte sich das nicht an. Vielleicht sollten sie doch lieber nicht zu laut schreien. Aber genau wussten sie es auch nicht.
„Mir passiert das mit dem Kuchen nicht“, rief die Zwetschge, die kaum einer mehr beachtete, weil sie schon seit Tagen einen Wurm in ihrem weichen, überreifen Bauch beherbergte. „Ich bin so etwas wie eine Mutter geworden. Eine Wurmmutter. Und sagt, wer würde einer Mutter etwas antun?“
Ein Wanderer kam des Wegs. Er sah die reifen Früchte, pflückte eine ab, polierte sie an seinem Hemdsärmel und biss genussvoll hinein.
„Lecker, lecker!“, lobte er und machte sich wieder auf den Weg.
Beim Zwetschgenbaum war es still geworden. Man hörte auch in den nächsten Tagen keine Rufe mehr. Irgendwann kam die Bäuerin mit Korb und Leiter und pflückte alle Früchte ab. Die ergaben sich klaglos in ihr Schicksal. Sie lebten noch lange ein zweites Leben und verfeinerten in den dunklen Monaten des Jahres viele Mahlzeiten mit ihrem köstlichen Geschmack, dass die Menschen „Zwetschgen sind unsere liebsten Früchte“ sagten. Ja, so war das!
Nadja kommt nach den Sommerferien in die Schule. Im Kindergarten hat sie mit ihrer Mutter zusammen eine Schultüte gebastelt. Nadja findet, dass es die schönste Schultüte von allen ist und sie ist besonders stolz auf sie.
„Schau, Oma, ist sie nicht ganz wunderbar geworden?“, fragt sie die Oma, die das nur bestätigen kann.
„Ich habe noch nie eine schönere Schultüte gesehen, Nadja!“
„Hast du auch eine Schultüte gehabt, Oma?“, will Nadja nun wissen.
„Aber sicher, mein Kind. Sie war aus rotem Glanzpapier und ein Blumentauschbild klebte darauf. So groß und schwer war meine Schultüte, dass ich sie kaum tragen konnte“, erinnert sich Oma.
„Was war denn drin, dass sie so schwer war?“
„Genau weiß ich das nicht mehr, aber ich erinnere mich an einen dicken Apfel mit roten Backen und an einen Anspitzer. Ach ja, eine Butterbrotdose war auch noch drin und ein Griffelkasten aus Holz.“
Nadja weiß nicht, was ein Griffelkasten ist, das Wort hat sie noch nie gehört, deshalb fragt sie nach.
„Wir hatten eine Tafel, auf der wir das Schreiben gelernt haben. Auf so einer Schiefertafel konnte man mit einem Kreidestift schreiben, den man auch Griffel nannte. Das Geschriebene konnte man anschließend wieder wegwischen und die Tafel neu beschreiben. Es gab eine Schwammdose mit einem sauberen feuchten Schwamm und einen Tafellappen aus Baumwolle zum trocken wischen“, erklärt Oma und dann fällt ihr ein, dass da noch etwas ganz Tolles in ihrer Schultüte war, etwas, das man nirgends kaufen kann.“
„Nun sag schon, was war es?“, drängelt Nadja.
„Eine Karte, auf die hatte meine Mutter mit Lippenstift einen dicken Kussmund gedrückt und darunter stand: Das ist ein Notfallkuss, damit du immer weißt, dass ich bei dir bin!“
„So ein Quatsch!“, sagt Nadja, die gar nicht verstehen kann, dass man einen Notfallkuss gebrauchen könnte. Schließlich war Mama ja immer da und die Schule ging auch nur bis zum Mittag, da war sie schnell wieder zu Hause.
„Ich habe diesen Notfallkuss immer bei mir getragen und es war gut, dass ich ihn hatte“, sagt Oma und dann geht sie zum Schrank und holt ein Fotoalbum hervor.
„Schau hier, da bin ich mit meiner Schultüte und hier hinten, auf der letzten Seite, da ist die Karte mit dem Kuss, ein wenig verblichen, aber immer noch erkennbar!“
Nadja schämt sich ein bisschen, dass sie den Kuss als „So ein Quatsch“ bezeichnet hat, wo er Oma doch so wichtig ist.
„Es ist der schönste Notfall-Kuss von allen“, lobt sie ihn deshalb und das tut Oma gut, sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und drückt ihre Enkeltochter fest.
Am Abend, als Nadja zu Bett geht und Oma noch schnell gute Nacht sagen will, steckt sie ihr einen Zettel zu.
„Schau, Oma, hier ist ein frischer Notfall-Kuss, damit du weißt, dass ich immer für dich da bin!“, sagt sie und dann hüpft sie aus dem Zimmer.
„Wie gut, dass ich sie habe!“, denkt Oma und betrachtet liebevoll den kleinen Kinderkussmund. „Ein Schatz ist sie, ein wahrer Schatz!“