Das Mädchen und das Buch

Das Mädchen und das Buch

In meiner Familie wurde viel gelesen. Meine Eltern hatten einen großen Bücherschrank, der stets verschlossen war. Wir Kinder hatten eigene Regale in unseren Zimmern und zu jeder Gelegenheit kamen neue Bücher dazu. Bei meinem Lesehunger reichte das aber nicht aus. Was waren schon vier Folgen von Hanni und Nanni zu Weihnachten? Bereits am zweiten Festtag hatte ich sie ausgelesen und gierte nach neuem Lesestoff. In der Schule gab es damals noch keine Bücherei, in der ich mich versorgen konnte. Ich tauschte mit Freundinnen, aber oft hatten sie die gleichen Bücher wie ich. Also bettelte ich meine Eltern an, mir doch von ihren Büchern etwas herauszugeben.
„Na, dann schauen wir doch mal, ob etwas für dich dabei ist“, sagte meine Mutter, die meine Not verstehen konnte. Sie nahm den Schlüssel, der unter der Tonschale lag, die auf dem Bücherschrank stand und öffnete die Glastüren.
Die bunten Buchrücken begeisterten mich und der Geruch der Bücher war einfach nur wunderbar. Vorsichtig berührte ich die teils ledernen Einbände. Ich durfte mir aber kein Buch selbst aussuchen. „Dafür bist du noch zu jung“, sagte meine Mutter, oder „Das kannst du noch nicht verstehen!“
Sie reichte mir aber ein dickes Buch mit kleiner Schrift, an dem ich eine Weile zu knacken haben würde. Geschrieben war es von Ferdinand Sauerbruch und hieß: Das war mein Leben. (Gerade liegt es hier neben mir, denn es ist ein Andenken an die Zeit, in der ich die Bücher der Erwachsenen für mich entdeckte. Dass Sauerbruch es gar nicht selbst geschrieben hatte, erfuhr ich erst viel später. Der Journalist Hans Rudolf Berndorff soll es verfasst haben.)
„Nimm das Lexikon dazu und schlage nach, wenn du etwas nicht verstehst. Du kannst mich aber auch jederzeit fragen“, schlug meine Mutter vor und davon machte ich reichlich Gebrauch.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie fasziniert ich vom Leben und Wirken des berühmten Arztes war. Immer wieder habe ich einzelne Kapitel noch einmal gelesen und jedes Mal verstand ich ein wenig mehr von dem, was da erzählt wurde. Alles war aber weit weg, spielte in Berlin und München. Ich war noch nirgends in der Welt gewesen, alles, was ich von z.B. von Berlin gesehen hatte, war eine Ansichtskarte, die wir von einer Tante erhalten hatten, die nach Berlin gereist war. Dann kam ich an die Stelle, in der auf einmal die Rede von Bielefeld war, meiner Geburtsstadt. Das versetzte mich in Begeisterung, die ich sofort mit meinen Eltern teilte.
Viel später, während meiner Lehrzeit in Bielefeld, lernte ich dann einen Menschen kennen, der nach einer Kriegsverletzung in der Charité in Berlin operiert wurde. Damals war Prof. Sauerbruch leitender Chirurg. Herr G., mein Kollege, erzählte mir viel von der Zeit dort. Als er merkte, dass ich so viel über den Professor wusste, nahm er seine Brille ab und zeigte mir, wie Sauerbruch sein „verlorenes“ Auge versorgt hatte. „Damals war es nur ein tiefer Krater in meinem Gesicht, heute ist die Stelle so klein, dass ich sie hinter meinem Brillenglas verstecken kann. Ich bin sehr dankbar!“, sagte Herr G. mir und ich nahm mir vor, das Buch gleich noch einmal zu lesen.
Jetzt, fast fünfzig Jahre nach meiner ersten Begegnung mit dem Buch, liegt es wieder neben mir. Zart zeichne ich die goldgeprägten Buchstaben seines Einbandes nach. Ich werde es wohl noch einmal lesen, bald!
Es gibt noch viele weitere Bücher, die ich aus dem Bücherschrank meiner Eltern „entführte“, denn ich wusste ja, wo der Schlüssel lag. Einige habe ich heimlich gelesen, die, für die ich eigentlich noch zu jung war. Vergessen habe ich keines von ihnen.

© Regina Meier zu Verl 2015

Vom kleinen Trecker, der so gern gebraucht werden wollte 5

Mein Bauer, der Josef, hat mir versprochen, mich am Sonntag mit zum Bauernmarkt zu nehmen. Da sind wir früher auch immer gewesen. In den letzten zwei Jahren allerdings hat er mich nicht mitgenommen, sondern den dicken Grünen.

Ich verstehe das nicht, habe ich denn als Ältester keine Vorrechte, so wie der Großvater auf dem Bauernhof? Der darf doch auch alles machen, was ihm Spaß macht. Na ja, fast alles!

Geduld ist nicht meine Stärke, ich kann es nicht erwarten, bis endlich Sonntag sein wird. Dabei sollte ich in meinem Alter doch gelernt haben, dass nicht alles von jetzt auf gleich geht. Gelassenheit, die würde ich mir wünschen. Aber im Motorherzen bin ich immer noch Kind geblieben und das will ich auch gar nicht anders haben.

„Na, mein Kleiner, freust du dich?“, fragt der Josef und tritt mit Schwung an einen der dicken Hinterreifen.

„Aua, das tut doch weh!“, rufe ich.

„Wollen wir doch mal testen, ob du genug Luft hast für eine Spazierfahrt!“, sagt er noch und schon ist er auf die andere Seite gelaufen und tritt nochmal zu.

„Aua!“, kreische ich, aber das stört den Josef nicht die Bohne. Nie hören sie einem zu, meinen immer, dass sie alles besser wissen. Er hätte mich ja nur fragen müssen, ich weiß genau, wie es um meine Luft bestellt ist.

„Alles in Ordnung!“, bemerkt Josef. Habe ich ja gesagt, alles ist okay mit mir. Bis auf den Staub, den müsste mal einer abputzen, am liebsten wäre es mir, wenn der kleine Lukas das machte, denn der ist immer so vorsichtig, weil er mich doch liebt. Das hat er mir jedenfalls gesagt und darauf bin ich besonders stolz. Wenn seine kleinen Hände mich putzen, dann ist das ein so angenehmes Gefühl, dass ich am liebsten wie eine Katze schnurren würde. Aber ich will Lukas nicht erschrecken.

Und tatsächlich, am Samstag kommt mein kleiner Freund. Er hat eine Arbeitshose an und die Gummistiefel und schon geht die Schönheitspflege los. Jetzt verstehe ich auch, warum Josefs Frau immer so gern zum Friseur geht. Ich werde abgespült und eingeschäumt und dann wieder abgespült und dann trocken gerieben. Heiliger Auspuff, ist das gut! Jeden Tag könnte ich das genießen. Aber morgen geht es ja nun erst einmal auf den Bauernmarkt, mit Josef und Lukas. Die Frauen und Großvater kommen mit dem Auto nach.

Am nächsten Tag versammeln sich alle in der Scheune. Ich bekomme noch ein schönes Schild, auf dem steht wie ich heiße, wann ich geboren bin und wie lange ich schon bei Josef lebe. Dann steigt Josef auf, Lukas lässt sich auf den Kindersitz plumpsen und schon geht es los. Mit lautem Getöse und voller Übermut hupend erreichen wir das Gelände, auf dem der Markt stattfindet.

Wohlwollend betrachten mich die Menschen. Ich werde gestreichelt und gelobt. Ist das schön! Das ist wie pflügen, säen und ernten am gleichen Tag, einfach nur traktorisch genial.

Eine anmutige junge Dame interessiert sich besonders für mich. Sie ist Lukas‘ Freundin aus dem Kindergarten und möchte gern mal eine Runde mitfahren.

Dagegen habe ich nichts einzuwenden, schließlich fährt man nicht jeden Tag eine solche Schönheit durch die Gegend. Sie hat ein bisschen Angst, aber Lukas nimmt ihre Hand und hilft ihr beim Hochklettern.

„Ich pass schon auf sie auf“, flüstert er mir zu und dann fährt der Josef mit seiner kostbaren Fracht los, eine ganze Rund ums Gelände.

Ein schöner Tag war das, denke ich, als ich am Abend wieder in meiner Scheune stehe.

„Lasst mich nicht so lange warten, bis ich wieder gebraucht werde!“, bitte ich leise und dann schlafe ich ein, so erschöpft bin ich.

© Regina Meier zu Verl

Sieben Blüten (Mittsommergeschichte)

Sieben Blüten
Wie in jedem Jahr trafen wir drei Freundinnen uns am Tag vor Mittsommer*, um eine alte Tradition aufrecht zu erhalten. Heidi, Anke und ich pflückten bereits seit unserer gemeinsamen Schulzeit Blumen für den Mittsommerkranz, den wir anschließend gemeinsam banden.
Mit viel Freude gestalteten wir die bunten Kränze mit Sommerblumen, die wir in sieben verschiedenen Wiesen gesammelt hatten. So wie es sieben Wiesen sein mussten, war es auch Pflicht, dass es sieben unterschiedliche Blumen sein sollten. Das war gar nicht so einfach. Wie gut, dass wir auf dem Lande lebten, doch selbst hier waren die Wiesen entweder schon abgemäht, oder es fanden sich lediglich ein paar Butterblumen oder Margeriten. Manchmal drückten wir ein Auge zu und ernannten einen Straßenrand, der uns feine Kornblumen anbot, kurzerhand zur Wiese.
Unter viel Gelächter und Gekicher beim Schwelgen in Erinnerungen fuhren wir mit dem Fahrrad durch die Landschaft, rasteten mal hier, mal da. Wir sammelten Kornblumen, Butterblumen, Löwenzahn, Mohn, roten Klee und Wiesenschaumkraut. Dann machten wir uns mir unseren prächtigen Sträußen auf den Weg nach Hause. Jede von uns nahm ein Sträußchen mit jeweils einer der sieben Blütensorten mit nach Hause. Die anderen Blüten wurden als Haarkranz gebunden. Ein Kranz für jede von uns, das versteht sich von selbst.
Die fertigen Kränze wanderten dann in den Kühlschrank, bis sie am nächsten Abend zum Einsatz kamen. Zum Mittsommerfest trugen wir sie auf unseren Köpfen und wir waren stolz und glücklich. Mit dem Einzelsträußchen hatte es folgendes auf sich: Ein Mädchen legte die sieben Blüten in der Nacht vor Mittsommer unter ihr Kopfkissen und der, von dem sie in dieser Nacht träumte, würde ihr Liebster oder sogar ihr Ehemann werden.
Bei mir hat das nicht funktioniert. Einen Liebsten habe ich zwar gefunden, doch geträumt habe ich vorher nicht von ihm. Trotzdem lege ich brav mein Sträußchen unters Kopfkissen und ernte jedes Jahr den gleichen Spruch dafür: „Du mit deinem Unkraut!“, sagt mein Mann dann und ich nehme es ihm gar nicht übel, denn ich weiß ja, dass er es nicht böse meint.
Meine Freundinnen behaupten allerdings, dass es bei ihnen hundertprozentig geklappt hat. Wie auch immer, ich finde es schön, diese Traditionen, die wir den Schweden abgeschaut haben, beizubehalten und es ist ja auch wirklich sehr romantisch, dass in der Nacht des Mittsommers die Morgen- und die Abendröte einander lieben gelernt haben. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

© Regina Meier zu Verl
*Mittsommer (Midsommar) wird in Schweden immer an einem Samstag zwischen dem 20. – 26.6. gefeiert. In diesem Jahr ist das der 24. Juni 2021

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Zeichnung Regina Meier zu Verl

Helene und die Puppenfamilie

Helene und die Puppenfamilie

Früher hat Tante Helene noch bei uns gewohnt. Sie war Omas Schwester, unverheiratet, ein altes Fräulein, sagte Opa immer und kniff ein Auge zu. Das bedeutete für mich, dass ich das nicht sagen durfte, altes Fräulein. Irgendwann wurde Tante Helene dann krank und Opa sagte: „Der liebe Gott hat das alte Fräulein zu sich geholt!“
Daran erinnere ich mich noch gut und auch an den leckeren Butterkuchen, den es zum Kaffeetrinken nach der Beerdigung gab. An die leise Klaviermusik, die oft aus ihrem Zimmer tönte, kann ich mich noch gut erinnern. Grieg und Schumann und Tschaikowsky, das waren ihre Lieblingskomponisten und sie hatte von ihnen eine Unmenge Schallplatten. Was aus ihnen wohl geworden ist? Immer, wenn ich heute die vertrauten Stücke höre, stelle ich mir diese Frage. Und nicht nur diese.
Damals war ich ein Kind, oft bekam ich keine Antworten auf meine Fragen; von Tante Helene sowieso nicht. Die war schweigsam. Aber man konnte in ihrem Gesicht lesen. Oft hatte sie so ein feines Lächeln, dass mir ganz warm wurde, wenn ich sie anschaute. Oma sagte immer: Helene ist so ganz anders als ich. Ich glaube, sie denkt, sie sei was Besseres.
Was sie damit meint, habe ich damals nicht verstanden. Tante Helene war für mich eine alte Frau, aber sie war schön. Eine schöne alte Frau mit den schneeweißen langen Haaren, die sie zu einem locker gebundenen Knoten trug – und manchmal, an Wochenenden, ließ sie sie auch lang über den Rücken hängen. So schöne lange weiße Haare, fast bis zu ihrem Po.
Ich habe Zöpfe geflochten und mit bunten Schleifen zugebunden, oder sie wie eine Krone um den Kopf gewickelt. Dann die Zöpfe wieder gelöst und das seidige Haar sanft gebürstet. Tante Helene hat das sehr gefallen, das hat sie jedenfalls gesagt. Sie war geduldig und nahm sich die Zeit für mich. Das tat mir gut. Überhaupt war ihr Zimmer für mich immer wie eine Zufluchtsburg. Ärger oder Unfriede fanden hier kein Einlass und immer, wenn ich mit meinen Eltern Krach hatte, suchte ich bei ihr Unterschlupf. Mama und Papa wirkten so spießig gegenüber Tante Helene, die doch viel älter war als sie und als spätes Fräulein in den Augen der Leute doch die Spießige war. Falsch.
Es war ein paar Tage vor Weihnachten, als ich wieder einmal in Tante Helenes Zimmer auf dem Boden saß und mit meinen Puppen spielte. Ich redete immer mit ihnen. Meine Ursula, die größte der Puppen, war die Mutter, Heidi und Susi spielten die Kinder. Alle Puppen waren von Oma eingekleidet worden, trugen wollene Unterhosen und Hemden, Rüschenkleider mit adrettem Kragen, Kniestrümpfe und winzig kleine Lederschuhe. Es fehlte nur noch der Vater, doch den hatte ich nicht. „Es gibt keine Vater-Puppen“, hatte mir Mama immer wieder erklärt und ich fand das ehrlich blöde. Zu einer richtigen Familie gehörte ein Vater. Das war nun einmal so. Aber Mama ließ nicht mit sich reden und deshalb bettelte ich schon seit dem Sommer bei Tante Helene, dass sie mir zu Weihnachten eine Vaterpuppe schenkte.
„Ich werde sehen, was ich machen kann. Aber eigentlich bringt ja das Christkind die Geschenke, nicht wahr?“, fragte sie mit einem Augenzwinkern.
Das stimmte. Ich wollte ein bisschen schmollen, denn irgendwie verließ ich mich auf Tante Helene mehr, viel mehr als auf das Christkind. Das war so und das war für mich auch das Gute und Wichtige, das mich zu ihr hinzog. Ich konnte ihr vertrauen.
Als der Heiligabend endlich gekommen war, platzte ich fast vor Ungeduld. Ich hatte meine Puppen besonders hübsch angezogen und frisiert und auch mich selbst hatte ich herausgeputzt. Meine Haare trug ich auf die gleiche Art und Weise hochgesteckt, wie Tante Helene und mein schönes Kleid hatte die Tante mir gekauft.
Papa spielte „Ihr Kinderlein kommet“ auf dem Harmonium und dann durfte ich das Wohnzimmer betreten. Und dann, ja, dann hatte ich all die Lieder, die ich gelernt hatte, vergessen. Ich konnte nichts anderes tun als auf die Geschenke zu starren, die unter dem Christbaum lagen. Vor allem zwei große, längliche Pakete hatten es mir angetan. Zwei Pakete? In meinem Kopf rasten die Gedanken und endlich, endlich war es soweit. Bescherung! Und ich hatte recht gehabt: es waren zwei Pakete mit zwei Puppen. Mit einer Papapuppe nämlich und einer Tantenpuppe, denn die, so sagte Mama, gehörte schließlich auch in eine richtige Familie, so wie Tante Helene zu uns gehörte.
Das war das letzte Weihnachtsfest, das sie mit uns verbrachte und ich bin so froh, dass Mama das damals gesagt hat, denn es hat Tante Helene sehr gutgetan. Meine Tantenpuppe sitzt noch immer auf meinem Sofa, ich bringe es nicht übers Herz, sie in die Kiste zu den anderen zu räumen. Irgendwann werde ich selbst Kinder haben, die können dann damit spielen, vorausgesetzt ich werde kein altes Fräulein, wie Tante Helene. Ich muss lächeln, bei dem Gedanken, denn manchmal wäre ich so gern wie sie, ja, ganz bestimmt!

© Regina Meier zu Verl

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