Oma und der öffentliche Bücherschrank
Seit meine Oma den Bücherschrank in der Stadt betreute, für den eine alte Telefonzelle eingerichtet wurde, hatte sie jede Menge zu tun. Aber sie tat es gerne, denn sie war eine Leseratte und freute sich über jedes neue Buch, das sich im öffentlichen Bücherschrank einfand. Das war dann auch das Verrückte an der Sache, denn Oma konnte an keinem, wirklich an gar keinem Buch vorbeigehen, ohne es sich genauer anzusehen, darin zu blättern und die ersten paar Seiten zu lesen. Und dann fand sie es so interessant, dass sie es erstmal mit nach Hause brachte.
Seitdem stapelten sich hier die Bücher, die zuerst gelüftet, dann gelesen und anschließend wieder in den Bücherschrank gebracht wurden. Lüften? Ja, wirklich. Oma war allergisch gegen Zigarettenrauch. Manchmal griff sie sogar zum Föhn und föhnte die einzelnen Buchseiten durch. »Damit wird das Klima für die Buchstaben und Worte besser«, hatte sie mir mal erklärt.
Ehrlich, das habe ich bis heute nicht verstanden, aber es konnte mir egal sein. Die Bücher allerdings waren auch mir nicht gleichgültig. Sorgsam blätterte ich sie erstmal Seite für Seite durch. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich da schon alles gefunden habe.
Von den Eselsohren mal abgesehen, fanden sich die ungewöhnlichsten Lesezeichen. Da war vom Bonbonpapier bis zum Brausepulvertütchen aus den 60iger Jahren bis über Haarnadeln und Visitenkarten alles dabei. Das schönste Fundstück war allerdings ein Brief, den ich behalten habe, weil er mir so gut gefällt. Er war in einer feinen Handschrift von einer Eva geschrieben an ihren Hans. Junge, Junge, muss die den geliebt haben. Manchmal legte ich all meine Fundstücke vor mir auf den Tisch und überlegte, was sie wohl so alles erlebt haben mussten, wo sie gewesen sein könnten und ob die Leute, die sie in den Büchern vergessen hatten, jung gewesen waren oder alt, glücklich oder traurig, aufgeregt und gelangweilt, und in meinem Kopf entspannen viele neue Geschichten. Die könnte alle jemand in ein neues Buch, nein, in viele neue Bücher packen. Aufregend war das, echt wahr.
Das war doch eine großartige Idee – ich sollte Geschichten schreiben, Büchergeschichten.
»Oma!«, rief ich laut und warte auf eine Antwort.
»Oma, ich habe eine Idee!«, versuchte ich es noch einmal. Keine Reaktion!
»Oma, ich werde ein Buch schreiben!«, kreischte ich, so laut ich konnte.
»Das sagen sie alle!«, rief Oma und die Stimme kam ganz aus der Nähe. Komisch!
»Und rate, wie viele von ihnen dann tatsächlich ein Buch schreiben!«
»Nicht viele?«, fragte ich, doch das interessierte mich gerade weniger. Nein, was für mich gerade viel spannender war, war die Frage: Wo steckte Oma? Ihre Stimme klang, als hockte sie in dem Buch, das vor mir lag, irgendwo zwischen den Seiten. So nah klang sie. Nah und unsichtbar. Träumte ich das gerade?
Ich blätterte das Buch durch, fand aber gar nichts darin, auch Oma nicht, obwohl mich das gar nicht gewundert hätte.
Jetzt stand sie plötzlich neben mir und schaute mir über die Schulter.
»Wo warst du denn?«, fragte ich.
»Hier, wo sonst?« Oma sah mich verwundert an.
»Die ganze Zeit?«, wollte ich wissen.
»Klar!«, sagte Oma und nahm mir das Buch aus der Hand.
»Aha!«, sagte sie und lächelte vielsagend.
»Vielleicht war ich auch kurz in Narnia, schau, die Schranktür ist noch offen!«
Das konnte sie erzählen, wem sie wollte, aber ich würde ihr das nicht glauben! Ihr vielleicht?
© Regina Meier zu Verl
Aber sicher doch, was glaubst du wie oft ich mich beim lesen schon in einer Geschichte wieder gefunden habe (zwinkern) Fröhliche Grüße aus dem nicht mehr so heißen aber leider trockenen Bayern, Lore
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Auch hier gibt es diese Büchertelefonzellen!!! Da ich ja nun Rentnerin bin, bin ich trotzdem immer noch Bibliothekarin, lächel… Ich füttere diese Zelle oft und schau auch mal drüber, sortiere aus….
LG, Edith
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Ich bin auch eine von denen, die die öffentlichen Bücherschrank nutzen und manchmal ordne ich auch oder sortiere den Mist aus, der ständig ankommt.
Die Leidenschaft deiner Oma kann ich gut verstehen
Schmunzelgrüsse von Bruni
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Danke dir, liebe Bruni! Die Oma in meiner Geschichte bin ich wohl selbst, ich mache es nämlich genauso!
Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende dir
Regina
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