Vom Vergessen
„Nun sag doch mal, mir fällt gerade der Name nicht ein!“
Die alte Dame schaut ihre Tochter hilflos an. Immer wieder vergisst sie die Namen ihrer Nachbarn und sogar die der Verwandten und engsten Freunde.
„Wen meinst du denn, Mutter?“
„Ich meine das Mädchen mit den Zöpfen, das in der ersten Klasse neben mir gesessen hat.“
Die Tochter überlegt. Sie weiß beim besten Willen nicht, wen die Mutter meinen könnte. Also zählt sie alle Namen auf, die ihr in den Sinn kommen und von denen sie schon einmal etwas gehört hat.
„Ist es die Ursula, oder die Elisabeth. Oder vielleicht die Margret?“
Die Mutter schüttelt nur verzweifelt den Kopf.
„Nein, die meine ich alle nicht!“, ruft sie und Tränen schimmern in ihren Augen.
„Ich hole mal das Fotoalbum“, schlägt die Tochter vor. Sie setzt sich neben die Mutter und gemeinsam blättern sie in den Erinnerungsbildern.
„Schau, Mama, da ist ein Foto mit all deinen Klassenkameraden. Meinst du dieses Mädchen mit den Zöpfen?“
„Ja, das ist sie. Wenn mir doch nur der Name einfiele.“
„Erzähl mir ein wenig von ihr, vielleicht kommt der Name dann zurück.“
Doch die Mutter mag nicht erzählen, es quält sie, dass sie sich manche Dinge nicht mehr merken kann. Es ist ja so, dass sie selbst merkt, wie vergesslich sie geworden ist. Jeden Abend vor dem Einschlafen bittet sie Gott darum, ihr zu helfen, denn sie möchte nicht so hilflos sein wie ihr Mann, der zuletzt nicht einmal mehr sie, seine eigene Frau erkannte. Dabei hatte er sie trotzdem geliebt, denn niemand anders durfte an seiner Seite sein, wenn es ihm so richtig schlecht ging, nur sie, seine Frau.
Damals hatte sie sich vorgenommen, alles aufzuschreiben, damit sie es nachlesen konnte, wenn sie selbst einmal vergesslich werden sollte. Aber sie hatte es nicht gemacht. Immer war etwas anderes wichtiger gewesen.
„Ab heute werde ich es tun“, dachte sie und nahm ein Heft, das lange dafür vorgesehen war. Sie schrieb:
„Es ist Sonntag. Heute habe ich lange über einen Namen nachdenken müssen. Er fiel mir einfach nicht ein. Mit meiner lieben Sarah zusammen habe ich die alten Fotos angeschaut und hatte keine Idee, wie meine Freundin …“, sie stutzte, plötzlich, war er da, der Name, Angelika!
„…wie meine beste Freundin Angelika geheißen hat. Ich bin so froh, dass ich nun endlich wieder weiß, an wen ich seit Tagen denken muss. Von nun an werde ich jeden Tag schreiben. Schreiben hilft!“
© Regina Meier zu Verl

wie liebevoll und berührend diese Geschichte, über beginnende Demenz. Mein Vater hatte vier Jahre vor seinem Tod Alzheimer, war sehr schlimm für uns
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Das ist wirklich schwer. Ich habe es auch einige Male erlebt. Glücklicherweise ist meine Mutter ab noch fit, sie ist in diesem Jahr 80 geworden und sorgt ganz für sich allein. Sie liest sehr viel und löst jeden Tag ein Kreuzworträtsel – gegen das Vergessen, sagt sie. Ich glaube aber, dass es daran nicht liegt, es sind auch Menschen betroffen, die immer interessiert und wissbegierig waren. Es kann jeden treffen. Wichtig ist dann ein liebevoller Umgang mit dem Betroffenen, das erleichtert vieles, ist aber für die Angehörigen auch nicht leicht. Mir liegt dieses Thema sehr am Herzen. Als ich in einem Pflegeheim Nachtschicht gemacht habe, habe ich den Menschen, die nicht schlafen konnten auch immer Geschichten erzählt und erlebt, wie gut es ihnen tut.
Liebe Grüße
Regina
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Hallo ich arbeite in der Tagespflegeeinrichtung für Senioren. Immer wieder sind diese Geschichten Mittelpunkt in unser Vorleserunde. Danke für die tollen Geschichten und bitte mehr!!!!
Sabine Mechelhoff
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Hallo Sabine,
danke für den lieben Kommentar. Das ist für uns eine schöne Motivation weiterzuschreiben.
Herzliche Grüße und vielen Dank
Regina und Elke
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Hallo,
seit März arbeite ich mehrere Stunden in der Woche ehrenamtlich mit dementen Bewohnern eines Pflegeheimes. Ich war auf der Suche nach Liedern und Geschichten auf diese Seite gestoßen und finde diese Geschichten einfach prima. Gern werde ich einige ausdrucken und an Regentagen meinen lieben „Oldies“ vorlesen.
Bin gespannt, wie es aufgenommen wird.
Vielen Dank und liebe Grüße
Sigrid
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Hallo Sigrid,
dann wünsche ich Dir und den Oldies viel Vergnügen in den Vorlesestunden. Ich lese auch häufig in Altenheimen und das macht mir viel Freude, fast so viel wie das Schreiben! 🙂
Danke für den Besuch und den Kommentar, Elke und ich freuen uns sehr darüber!
Herzliche Grüße
Regina
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Liebe Regina,
mir war sofort nach den ersten Sätzen klar, dass diese schöne Geschichte aus Deiner Feder stammt. Sie hat mich sehr berührt.
Es ist schlimm, wenn jemand plötzlich große Teile seines Lebens vergisst. Aber Aufschreiben hilft bestimmt, zumindest am Anfang. Denn dieses Schreiben ist lockerer als das krampfhafte Nachdenken und Suchen nach einem bestimmten Namen.
LG
Astrid
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Danke, liebe Astrid,
für deinen Kommentar. Es stimmt, das Nachdenken ist krampfhaft und kann ganz schön bekümmern. Ich habe das ein paar Mal erlebt, als ich noch mehr mit Menschen zu tun hatte, die in verschiedenen Stadien der Demenz lebten. Aber auch ich selbst suche häufig nach Namen, die mir nicht einfallen wollen. Das war aber bei mir schon immer so, ich kann mir dafür sehr gut Zahlen merken, obwohl ich mit der Mathematik so gar nichts am Hut habe. 🙂
Herzliche Grüße
Regina
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Ja, Demenz ist tragisch. Zu Sehen und Erleben wie ein Mensch abbaut und das Vergessen zunimmt ist schlimm.
In meinem unmittelbaren Umfeld erlebe ich erneut eine an Demenz erkrankte
weibliche Person. Der Abbau in den letzten zwei Jahren ist rapide.
Ich bewundere Ihren Ehemann, mit welcher Intensität Er Seine Ehefrau betreut.
Beeindruckend.
Man wird auf einmal ganz nachdenklich.
Christoph
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