Paul, Oma und die Plexiglasscheibe
Liebes Tagebuch,
du weißt ja, dass ich freitags immer Oma besuche. Oma sagt, das sei unser Tag und das stimmt ja auch. Ein einziges Mal bin ich freitags nicht bei ihr gewesen, das war, als Oma im Krankenhaus lag. Schrecklich war das! Also nicht dieser eine Freitag, das hätte ich ja verschmerzt, aber dass Oma da lag, zehn ganze Tage, ganz allein. Niemand durfte sie besuchen, nur telefonieren war erlaubt und Briefe schreiben. Ich habe ihr ein paar Bilder gemalt und fast jeden Tag hat Papa einen großen Umschlag im Krankenhaus abgegeben für Oma. Als sie dann endlich entlassen wurde, konnte ich noch immer nicht zu ihr. Mama hat mir erklärt, dass ich Oma gefährden würde. Ich? Ausgerechnet ich, wo ich doch meine Oma so liebhabe?
Überhaupt ist alles blöd in dieser Zeit. Ich durfte wochenlang nicht in die Schule und mit meinen Freunden kann ich mich auch nicht verabreden. Über meinen Bruder Max muss ich mich oft ärgern, aber in der Corona-Zeit bin ich nun doch sehr froh, einen Bruder zu haben.
Jetzt haben die Sommerferien angefangen. So richtig drüber freuen kann ich mich nicht. Es ist einfach stinklangweilig, dabei ist das Wetter gar nicht mal so schlecht. Ich könnte ins Freibad, aber da kann man nicht einfach im Wasser rumtollen, oder mit den Freunden spielen. Es gibt Regeln, strenge Regeln. Abstand sollen wir halten, und die Hände desinfizieren. Es gibt keine Pommes und man darf auch nichts zum Picknicken mitnehmen.
Du merkst wohl, liebes Tagebuch, dass ich nicht gut zufrieden bin. Eigentlich sollte ich mich nicht beklagen, anderen geht es schlechter als mir. Wir haben immerhin einen Garten, in dem ich spielen kann und Max ist ja auch da. Aber Oma macht mir Sorgen. Sie ist allein und ich darf nicht hin. Das ist doch großer Mist!
Warte kurz, Papa ruft, ich schreibe gleich weiter …
Liebes Tagebuch,
du glaubst nicht, was passiert ist. Ich bin so glücklich, und Oma erstmal, die ist noch glücklicher oder zumindest genauso wie ich.
Aber von vorn: Papa hatte mich ja gerufen. Es gab eine sensationelle Neuigkeit für mich. Im Fernseher hatte er gesehen, dass die Nachrichtensprecher durch Plexiglasscheiben voneinander getrennt sind. Das soll sie vor gegenseitiger Ansteckung schützen. Jetzt hat Papa, weil er unseren Kummer nicht mehr mit ansehen konnte, auf Omas Terrasse eine Plexiglasscheibe aufgebaut, wo Max und ich auf der einen Seite und Oma auf der anderen Seite sitzen können und uns sehen und unterhalten können. Ist das nicht mega? Ein wenig lauter müssen wir noch immer reden, aber wir müssen längst nicht mehr so schreien, wie in den vergangenen Tagen, wenn wir an der Gartentür standen und Oma in der Haustür. Vielleicht hätten wir etwas näher hingehen können, aber mal ganz ehrlich: wenn man sich sowieso nicht drücken darf, dann kommt es auf einen halben Meter Vorsicht mehr auch nicht an, oder?
So, nun muss ich schlafen. Morgen gehe ich wieder zu Oma und ich hoffe sehr, dass ich sie bald auch mal wieder drücken darf – hach, das wäre schön!
Dein Paul
© Regina Meier zu Verl

Eine weitere Geschichte, die zur Coronazeit entstanden ist:
Von Hamstern, Dieben und Toilettenpaper
Eine sehr aktuelle Geschichte. Meine Familie wohnt so weit weg das für mich nichts anders war als sonst auch. Aber für die Menschen, die es betrifft hat es mir schon auch leid getan.
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Danke schön, Brigitte, für den Kommentar und fürs Lesen. Ich habe 5 Enkelkinder, drei davon wohnen ebenfalls etwas weiter weg, eines habe ich im Haus und der Älteste, Lukas, wohnt in der Nachbarstadt. Die drei, die weiter wohnen, hate ich auch lange nicht gesehen und die Sehnsucht war groß!
Herzliche Grüße
Regina
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